Die Dringlichkeit der Klimakrise wächst und der Zusammenhang zwischen Klimawandel, zerstörten Ökosystemen und der Ausbreitung von Krankheiten wird immer deutlicher.

Für das medico-Bulletin 3/23 hat Alice Froidevaux mit der Ärztin und Klimaaktivistin Bea Albermann über ‹Planetare Gesundheit› und die Kraft des Aktivismus gesprochen.


medico: Was hat dich motiviert, Ärztin zu werden und wie wurdest du politisiert?

Bea Albermann: Schon seit meiner Jugend bin ich aktivistisch tätig und interessiere mich für Fragen der Gerechtigkeit. Für das Medizinstudium habe ich mich entschieden, weil es mir wichtig war, praxisbezogen zu arbeiten. Schnell merkte ich, dass unsere Gesundheit zwar vor allem ausserhalb des Spitals beeinflusst wird, also von den systemischen Rahmenbedingungen, in denen wir leben, wir darüber aber im Studium kaum etwas lernen. So habe ich angefangen, mich nebenbei in Public- und Global Health-Projekten zu engagieren und war als Präsidentin des Verbandes der Medizinstudierenden aktiv. Als Jugenddelegierte für das Schweizer Bundesamt für Gesundheit durfte ich die Weltgesundheitskonferenz der WHO besuchen. Dort wurde mir klar, wie Menschen weit weg von der Basis ‹Gesundheit› unter sich verhandeln. Seither begleitet mich die Frage: Wie können wir ‹Gesundheit› demokratisieren und eine Politik gestalten, die das Wohlbefinden der Menschen ins Zentrum stellt? Zudem habe ich auf internationalen Konferenzen zum ersten Mal die Aussage gehört, dass die Klimakrise die grösste Bedrohung für unsere Gesundheit darstellt. Gleichzeitig habe ich sieben Jahre Medizin studiert, ohne ein einziges Mal etwas über Nachhaltigkeit oder das Klima zu hören. Das kann doch nicht sein!

Heute befasst du dich mit der Schnittstelle ‹Klima & Gesundheit› und bist Verfechterin der ‹Planetaren Gesundheit›. Bitte erläutere diesen Ansatz.

Als ganzheitlicher Ansatz lehrt Planetary Health, dass die menschliche Gesundheit von der Gesundheit der Tiere, der Ökosysteme aber auch von politischen und sozialen Systemen abhängt. Der Ansatz arbeitet mit dem Konzept der planetaren Grenzen, das neun ökologische Kipppunkte der Erde definiert, die irreversibel sind, wenn wir sie überschreiten. Aktuell sind wir bei sechs der neun Grenzen bereits im kritischen Bereich! ‹Planetare Gesundheit› ist heute sowohl ein Forschungsgebiet als auch eine soziale Bewegung. Die meisten Menschen sorgen sich um ihre eigene Gesundheit. Wenn wir über die Auswirkungen der ökologischen Krisen auf unsere Gesundheit sprechen, ermöglicht dies somit eine neue Perspektive auf den Klimadiskurs, der in der Politik oft stark links-rechts behaftet ist. Das Konzept der planetaren Gesundheit hat deshalb grosses transformatives Potential.

Du hast die Gruppe Health for Future Switzerland mitbegründet. Wer seid ihr?

Wir sind eine Bewegung von Menschen, die im Gesundheitsbereich tätig sind. Ärzt*innen, Pflegefachpersonal, Therapeut*innen, Studierende... Wir setzen uns im Rahmen der Planetary Health- Strategie der Schweizer Ärzt*innenkammer für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen ein und teilen Wissen. Schauen wir unser Medizinstudium an, ist es nicht verwunderlich, dass wir von unseren Hausärzt*innen heute meist keine klimasensible Gesundheitsberatung erhalten. Das wollen wir ändern. Wir sind inspiriert von Fridays for Future und solidarisieren uns mit dem Klimastreik. Wir möchten Menschen mobilisieren, weil es unfassbar dringend ist und wir wahnsinnig viel zu verlieren, aber eben auch viel zu gewinnen haben!

Wichtig ist der Aspekt der globalen, sozialen Gerechtigkeit. Es braucht nicht nur Klimaschutz, sondern Klimagerechtigkeit, und unsere Lösungsansätze müssen feministisch, intersektional und dekolonial sein. Die Weltregionen, die am meisten von der Klimakrise betroffen sind, haben sie am wenigsten verursacht. Extreme Wetterereignisse führen vermehrt zu Vertreibung und Migration. Frauen und Kinder sind auf Fluchtrouten besonders gefährdet. Auch im Globalen Norden leiden arme Bevölkerungsschichten und People of Color aufgrund städtischer Wohnpolitik stärker unter Luftverschmutzung und Hitze. Die Frage ist, wer hat die Macht, Veränderung zu bewirken? Klar ist, ohne den Druck einer aktiven Zivilbevölkerung bewegt sich nichts.

Soziale Bewegungen haben erreicht, dass die Klimagerechtigkeit heute auf der internationalen politischen Agenda steht. In der Schweiz wurde das Klimaschutz-Gesetz angenommen. Auch dank eurem Engagement hat die Schweizer Ärztekammer 2021 die Klimakrise zum gesundheitlichen Notfall erklärt und eine Planetary-Health-Strategie verabschiedet. Wie erreichen wir, dass es nicht bei Konzepten und Strategien bleibt?

Es bleibt Handarbeit! Hinter all diesen Erfolgen stehen Menschen, die sich unermüdlich einsetzen. Ich glaube, wir unterschätzen oft, wie stark es auf jede einzelne Person ankommt. Je mehr wir sind, desto mehr kollektive Macht haben wir, um einzufordern, dass wir und unser gesundes Miteinander im Zentrum der Politik und der Wirtschaft stehen müssen. Es braucht alle Generationen, nicht nur die Jungen. Bestes Beispiel: Die ‹Klimaseniorinnen› mit der ersten Klimaklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Oft kommt auch die Frage auf: Wer hat Zeit für Aktivismus? Hier braucht es mehr Bewusstsein: Was für ein System hält uns beschäftigt? Was anerkennen wir als ‹Arbeit›? Und was macht das mit unserer Gesundheit?

Wir sprechen heute visionär von Kreislaufwirtschaft, von Sharing- oder Wellbeing-Ökonomie und von planetarer Gesundheit. Vielerorts werden jedoch bereits Modelle gelebt, bei denen sich das Wohlergehen der Menschen und eine nachhaltige Wirtschaft gegenseitig stärken – bei den Zapatistas in Mexiko und im kurdischen Rojava etwa. Während wir hier sogar im Gesundheitssektor ins Bewusstsein rufen müssen, dass es gesunde Menschen nur auf einem gesunden Planeten gibt, ist das im Gesundheitsverständnis vieler indigener Völker grundlegend verankert. Sie sind auch die Frontline-Kämpfer*innen für den Schutz weltweit wichtiger Ökosysteme. Für mich geht es darum, daran zu glauben, dass ein Systemwandel möglich ist und diesen aktiv mitzugestalten – das heisst auch, uns mit verschiedenen Kämpfen weltweit zu solidarisieren und unser Wissen mit demjenigen anderer Kulturen und Bewegungen zu verbinden.