Nach zwei Einsätzen von insgesamt neun Jahren bei medico wird Anita Escher pensioniert. Ihre Stelle als Projektkoordinatorin übernimmt Anouk Maria Robinigg. Mit ihnen haben wir über medico gesprochen: über Erlebtes, Gelerntes und Perspektiven für die Zukunft.

Alice Froidevaux

Nach zwei Einsätzen von insgesamt neun Jahren bei medico wird Anita Escher pensioniert. Wir bedanken uns herzlich bei Dir, Anita, für das grosse Engagement: Dein politisches Wissen in Kombination mit
deiner fachlichen Erfahrung hat den Blick von medico, insbesondere der Projektkommission auch für subtile Machtverhältnisse in der Hilfswerkarbeit geschärft. Die Stelle als Projektkoordinatorin übernimmt Anouk Maria Robinigg. Willkommen Anouk: Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit!

Wie bist du damals zu medico gekommen, Anita?

Anita: Bevor ich das erste Mal zu medico kam, arbeitete ich schon mehrere Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit. Ich kannte medico-CSS über die Solidaritätsbewegung zu Zentralamerika. So habe ich viele engagierte Frauen, die heute noch bei medico sind, kennengelernt. Ich war auch im Radio LoRa aktiv, das schon damals ein Treffpunkt für Soligruppen und die feministische Bewegung war. Als bei medico eine Stelle ausgeschrieben war, habe ich mich entschieden, politische Haltung mit technischem Wissen in meiner Arbeit zu verbinden. Die Solidaritätsarbeit habe ich in meiner Freizeit weitergeführt, was ich auch nach meiner Pensionierung tun werde.

Anouk, du bist Ökonomin, Feministin, hast lange beim LoRa gearbeitet. Was hat dich zu medico gebracht?

Anouk: Ich habe medico vor allem in Verbindung mit der Kurdistan-Solidarität kennengelernt. Wichtig für meinen Entscheid, mich zu bewerben, war die Tatsache, dass medico nicht aus einer Tradition eines klassischen Hilfswerkes kommt, sondern aus der internationalistischen Solidarität, aus einer Verknüpfung mit antikolonialen und antifaschistischen Befreiungskämpfen. Wir sehen uns im gleichen Kampf wie die Partnerorganisationen, die wir unterstützen.

Anita: Genau. Deshalb ist es wichtig, nach dem Namenswechsel von CSS zu medico, die antifaschistische Geschichte der Organisation beizubehalten – gerade jetzt mit dem Wiederaufkommen neo-faschistischer Tendenzen.

Anouk: Je besser ich medico kennenlerne, desto überzeugter bin ich vom Ansatz der Organisation. Die Arbeit unserer Partnerorganisationen ist sehr wichtig und wir können politisch viel von ihnen lernen. An meinem ersten Arbeitstag konnte ich bereits Kolleg*innen von Los Angelitos aus El Salvador kennenlernen. Mit ihrer Geschichte, ihrem Verständnis von ‹Behinderung› und dem Einbezug der gesellschaftlichen Komponenten sind sie vielen Organisationen hier voraus. Oder zu sehen, wie sich in Vietnam alte Menschen auf nationaler Ebene vernetzen und organisieren. Das ist sehr eindrücklich.

Anita: Ja, die medico-Partner*innen sind politische Subjekte und nicht ‹Begünstigte›. Ihre Diskussionen über die Umsetzung und Positionierung ihrer Arbeit, eröffnen uns auch hier neue Perspektiven, stellen eurozentristische und koloniale Denkmuster in Frage. Wir müssen den White Saviorism überwinden und Dynamiken des Paternalismus und der (Re-)Viktimisierung immer hinterfragen. In unserer Arbeit stehen wir vor herausfordernden Widersprüchen, weil wir mit institutionellen Geldgebern in einer Projektlogik funktionieren müssen. Gleichzeitig wollen wir nicht, dass unsere Partner*innen als Basisorganisationen ‹NGOisiert› werden, sondern die Stärkung der Organisationen als Kollektive unterstützen. Diese Widersprüche müssen wir aushalten.

Hier übernimmt medico Übersetzungsarbeit zwischen Partner*innen, Geldgeber*innen und Privatspendenden. Was bedeutet das für die Projektkoordination?

Anita: Es ist ein Spagat. Einerseits sind Transparenz und Kontrolle der Finanzen notwendig, andererseits braucht es für die solidarische Unterstützung, wie sie medico versteht, auch ein Grundvertrauen in die lokalen Organisationen. Das Eine schliesst das Andere nicht aus. Mit welchen Partner*innen medico zusammenarbeitet und wie hoch die Unterstützungsbeiträge sind, hängt auch von politischen Werten ab. Wir dürfen nicht vergessen: Auch wenn die Bedürfnisse in den Projektregionen riesig sind, können aus strategischer Sicht medico und die Partnerorganisationen nicht den Staat ersetzen. Das Ziel darf nicht sein, langfristig Dienstleistungen zu übernehmen, die der Staat erbringen sollte, sonst hören die Menschen auf, dafür zu kämpfen.

Anouk: Ich lerne von Anita sehr viel und kann das mit meinen eigenen Erfahrungen verknüpfen. Die finanzielle Solidarität ist essentiell in der Arbeit von medico und die Umsetzung muss mit viel Bewusstsein für den Kontext und die globalen Machtverhältnisse passieren. Unser Ziel ist es, Veränderungen zu unterstützen und nicht Abhängigkeiten zu verstärken. Es ist motivierend, wieviel Erfahrung und Wissen in medico zwischen Geschäftsstelle, ehrenamtlichen Projektverantwortlichen und Partnerorganisationen zusammenkommt und wie es an neue Generationen weitergegeben wird.

Wie siehst du das Zusammenkommen wertvoller Erfahrung und frischen Initiativen im Generationenwandel bei medico, Anita?

Anita: Die politischen Analysen und Zusammenhänge zu verstehen, kann nicht einfach nachgeredet werden. Da muss jede Person ihren eigenen Prozess machen, ausgehend vom eigenen Hintergrund, eigenen Überlegungen und politischen Erfahrungen. Das ist Teil der Idee von medico: Es soll kollektiv etwas entstehen, und dafür braucht es auch Toleranz und Geduld. Die ‹Neuen› und ‹Alten› in medico haben diese gemeinsame Diskussion bereits begonnen.

Und wie seht ihr die Rolle von medico mit Blick in die Zukunft?

Anita: Ich sehe medico auch als kritisches Sprachrohr unserer Partner*innen. Hier im Herzen der kapitalistischen Schweiz die Positionen unserer Partnerorganisationen zu teilen und über ihren Widerstand zu berichten ist ein Auftrag. Als unabhängige Organisation kann medico Dinge benennen, die nicht im Mainstream der Entwicklungszusammenarbeit stehen. Zum Beispiel sprechen wir von Kurdistan als Region und teilen das Gebiet nicht nach Nationalstaaten auf, dadurch vermitteln wir eine wichtige Forderung unserer kurdischen Partner*innen. Die Gesundheitsversorgung in zersplitterten Territorien und für vertriebene Menschen ist ein Fokus von medico, neben Kurdistan im Maya-Territorium in Mittelamerika und natürlich in Palästina. Diese Schwerpunkte finde ich wichtig und sie heben medico ab.

Anouk: Die neokoloniale Weltordnung, geprägt von Zerstörung, Vertreibung und Krieg, braucht dringend politische, soziale und ökonomische Alternativen. Jede Initiative, solche aufzubauen, muss unbedingt gestärkt werden. Ich sehe medico als Teil der Idee, dass eine andere Welt notwendig ist, und freue mich darauf, aus meiner neuen Funktion heraus einen Beitrag dazu zu leisten.