In El Salvador kämpfen 73 Frauen für ihre «würdevolle Wiedereingliederung», nachdem sie wegen geburtshilflicher Notfälle kriminalisiert wurden und lange Haftstrafen absolvieren mussten. Im Interview erzählt Teodora Vásquez von der Vereinigung Mujeres Libres (Freie Frauen), was die Freilassung von Lilian als letzte Inhaftierte für die Frauengruppe bedeutet und wie sie bei den Mujeres Libres arbeiten.

Das Interview führte Philipp Gerber

Ende des vergangenen Jahres wurde Lilian aus der Haft entlassen, die letzte von 73 Frauen, die in El Salvador wegen geburtshilflicher Notfälle kriminalisiert wurden – ein bedeutender Erfolg. Lilians neugeborene Tochter starb aufgrund von medizinischem Versagen im Krankenhaus. Dennoch wurde Lilian wegen Mordes zu 30 Jahren Haft verurteilt, von denen sie 8 Jahre unschuldig absass. Teodora, wie bewertest du diesen Moment aus Sicht der Organisation «Mujeres Libres», die ehemalige inhaftierte Frauen begleitet?

Mit anderen Kolleginnen von Mujeres Libres konnte ich Lilian gestern besuchen. Ich kannte sie schon, von der Zeit als ich selbst noch im Gefängnis war. Wir konnten uns austauschen und Liliana ermutigen, ihren Weg weiterzugehen. Die Rückkehr in die Familie ist für Frauen, die wegen des Stigmas der Mordanklage aufgrund von geburtshilflichen Notfällen kriminalisiert wurden, stets ein schwieriger Prozess.

Links Teodora, in der Mitte Lilian.

Unter Präsident Bukele herrscht in El Salvador der Ausnahmezustand, die Repression nimmt zu und die Zahl der Gefängnisinsassen steigt. Wie erklärst du dir, dass in euren Fällen alle Frauen freigelassen wurden?

Wir weiblichen Gefangenen verfügen über geringe finanzielle Mittel, um eine angemessene Verteidigung zu finanzieren und so unsere Freiheit zu erlangen. Frauen, die aufgrund von geburtshilflichen Notfällen strafrechtlich verfolgt oder verurteilt wurden, erlangen ihre Freiheit zurück, weil zivilgesellschaftliche Gruppen ihre Fälle öffentlich gemacht haben und Anwält*innen sich ihrer angenommen haben. Zudem haben wir keine kriminellen Verbindungen. Wir haben kein Verbrechen begangen, und insgeheim weiss der Staat, dass wir unschuldig sind.

Welche Bedürfnisse haben Frauen, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurden, und welche Unterstützung kann die Vereinigung Mujeres Libres ihnen bieten?

Wir Frauen, die wegen geburtshilflicher Notfälle kriminalisiert wurden, erleiden zwei Strafen: diejenige des Richters und diejenige der Gesellschaft – eine lebenslange Verurteilung. Familie und Nachbarn diskriminieren uns, beschuldigen uns als «unnatürliche Mütter»  und gewähren uns keine neuen Chancen oder Arbeit. Das versetzt uns in eine schwierige Situation der Armut und erhöht die Gewalt gegenüber den Frauen. Bei der Rückkehr in die Familie herrscht Spannung; einige glauben uns nicht, andere schon. Unsere Familienmitglieder schliessen uns weiterhin aus und erlauben uns manchmal nicht einmal, unsere Kinder zu sehen. Als widerstandsfähige Frauen stehen wir dieser Realität gegenüber. In der Organisation Mujeres Libres arbeiten wir daran, unsere Geschichten festzuhalten, und unterstützen uns gegenseitig im Umgang mit Gewalterfahrungen.

In El Salvador und in Lateinamerika im Allgemeinen gibt es eine feministische Bewegung, die die Entkriminalisierung der Abtreibung fordert. In euren Fällen wolltet ihr nicht einmal abtreiben, sondern wurdet kriminalisiert, obwohl ihr Mütter werden wolltet. Wie siehst du die Frage der reproduktiven Rechte nach dem Gefängnis?

Genau, in keinem unserer Fälle handelte es sich um eine geplante Abtreibung. Wir haben unsere Babys durch Unfälle, Partnergewalt oder eine ungenügende Gesundheitsversorgung verloren. Als wir in der geburtshilflichen Notaufnahme waren, wurden wir vom Gesundheitssektor bei der Polizei angezeigt und wegen Mordes verhaftet und angeklagt. Daher konzentrieren wir uns in erster Linie auf die würdige Wiedereingliederung von Frauen nach langen Jahren im Gefängnis. Wäre uns das alles nicht passiert, wäre ich vielleicht nie so sensibilisiert für die Fragen der reproduktiven und sexuellen Rechte geworden. Heute weiss ich, dass Frauen Rechte haben, und wir gehen in die Gemeinden, um mit jungen Frauen über die freie Ausübung ihrer Sexualität und über Familienplanung zu sprechen.

In El Salvador werden Mädchen aufgrund des tief verankerten Machismo auch heute noch häufig im Alter von 10 bis 16 Jahren schwanger. Es handelt sich dabei immer um Vergewaltigungen; die Mädchen werden zur Teilnahme am Geschlechtsverkehr manipuliert. Wir halten es für sehr wichtig, auch mit den Eltern über die Konsequenzen zu sprechen, wenn junge Mädchen nicht aufgeklärt werden.

Frauen der Vereinigung Mujeres Libres beim erfolgreichen Abschluss einer sechsmonatigen Weiterbildung zum Thema sexuelle und reproduktive Rechte.

Nach der Freilassung von Lilian hat die Agrupación Ciudadana por la Despenalización del Aborto (Bürger*innengruppe für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen) bekannt gegeben, dass nun alle frei sind. Stimmt es, dass es keine Frauen mehr im Gefängnis gibt, die des Mordes beschuldigt werden, weil sie einen geburtshilflichen Notfall erlitten haben?

Wir wissen nicht sicher, ob es alle sind; es könnten mehr sein, vielleicht bis zu 200 Frauen. Die Freilassungskampagne begann mit der Zahl 17, als Anwält*innen im Jahr 2012 Akten überprüften und 17 weibliche Häftlinge für dieses «Verbrechen» identifizierten. Dann starteten sie die Kampagne «Die 17 und mehr» und erreichten bis heute die Freilassung von 73 kriminalisierten Frauen. Da die in den Akten registrierte Straftat Mord ist, ist es sehr schwierig, alle Frauen zu finden, die wegen geburtshilflicher Notfälle inhaftiert sind. Es gibt Fälle, die nicht erfasst wurden, weil es sich um gefangene Frauen handelt, die ihre Strafe bereits verbüsst haben oder kurz vor ihrer Entlassung stehen. Solange die Gesetze nicht geändert werden, können wir nicht sicher sein, dass es nicht noch mehr Fälle geben wird. Wir müssen immer auf der Hut sein; heute sind es vielleicht null, aber morgen könnten es fünf neue Gefangene sein.

Es gibt also keine Veränderung in der Art und Weise, wie die Behörden in diesen Fällen vorgehen?

Seit dem Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall «Manuela und Familie gegen El Salvador» Ende 2021 hat sich eine wichtige Änderung ergeben: Der Gerichtshof verurteilte die Regierung von El Salvador, weil sie medizinisches Personal unter Druck setzte, die berufliche Schweigepflicht zu brechen, und die Polizei zu benachrichtigen, wenn sie eine Patientin mit Verdacht auf Abtreibung behandeln. Seitdem gibt es eine neue Anweisung an das Gesundheitsministerium, dass Ärzte geburtshilfliche Notfälle nicht mehr an die Nationalpolizei, sondern an das Ministerium für Sozialarbeit melden sollen. Die Gefahr für die Frauen besteht jedoch weiterhin, auch wir sind weiterhin gefährdet, denn wir sind vorbestraft.

Wie habt ihr die Nachricht der Freilassung von Liliana aufgenommen und wie hat die salvadorianische Gesellschaft reagiert?

Wir freuen uns sehr über die Nachricht. Leider gibt es aber auch immer wieder beschuldigende Kommentare, Schlagzeilen wie «Sie haben Mörderinnen in die Freiheit entlassen». Wir begleiten unsere Genossinnen der Mujeres Libres weiterhin und unterstützen uns gegenseitig. Noch schwieriger als im Gefängnis zu sein, ist es, wieder in die Freiheit zu gehen. Hier draussen müssen wir neue Wege finden, um zu überleben.

Übersetzt von Alice Froidevaux

Seit 2023 unterstützt medico international schweiz den Verein Mujeres Libres El Salvador im Bereich der psychosozialen Begleitung und mit medizinische Behandlungen für ehemalige inhaftierte Frauen.

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