In der abgelegenen Kooperative Nuevo Horizonte im Norden Guatemalas steht das erste Museum über die Geschichte der Guerilla im Land. Im aktuellen politischen Kontext eines zweiten «demokratischen Frühlings» kommt diesem Ort der kollektiven Erinnerung nochmals besondere Bedeutung zu.

Muriel Fischer

«Nuevo Horizonte» ist eine selbstverwaltete Kooperative im Petén, dem nördlichsten Departement von Guatemala. Nach der Unterzeichnung der Friedensverträge im Jahr 1998 von Ex-Guerillakämpfer*innen gegründet, giltsieheutemitihrenproduktivenund sozialen Projekten als Modell auf nationaler Ebene. Nuevo Horizonte ist eine der 23 Gemeinden, in der die Selbsthilfevereinigung für Kriegsversehrte und medico-Partnerorganisation Asociación Guatemalteca de Personas con Discapacidad (AGPD) verankert ist.

Im Februar 2022 öffnete in Nuevo Horizonte das erste und einzige Museum über die Geschichte der guatemaltekischen Guerilla seine Tore. Entstanden ist dieser Ort des Erinnerns und Lernens dank der Initiative einer Gruppe junger Bewohner*innen. Zu ihnen gehört die 24-jährige Banessa Sandoval. Selbst Tochter eines Guerilleros und einer Guerillera hatte sie schon früh am Küchentisch Geschichten aus der Zeit des Bürgerkrieges gehört. «Hier im Museum geht es darum, die Familiengeschichte in einen historischen Kontext zu setzen,» sagt Banessa. Als Teil des Rechercheteams hat sie den Aufbau des Museums von Anfang an mitbegleitet. Heute führt sie Besucher*innen durch die Ausstellung und durch die vergessene Geschichte Guatemalas.

Raum für kollektive Erinnerung

Ein wichtiger Teil des Museums sind Zeugenaussagen, die in Gruppensessionen aufgenommen wurden. Um diese Arbeit behutsam zu machen, absolvierten Banessa und ihre Kolleg*innen vorgängig psychologische Schulungen und wurden während dem Prozess von einer Fachperson begleitet. Schliesslich habe auch der persönliche Bezug geholfen beim empathischen Zuhören. «Oft fiel es den Teilnehmenden plötzlich schwer, sich zu erinnern oder weiter zu erzählen, sie wurden traurig oder verstummten, wenn es um traumatische Erlebnisse wie den Verlust geliebter Menschen, um Massaker oder Folter ging,» erzählt Banessa. Interessant sei gewesen, wie das Erinnern in der Gruppe half, Ereignisse zu rekonstruieren. «Die Teilnehmenden wurden nach ihren jeweiligen Funktionen in der Guerilla eingeteilt: Kämpfende, Sanitäter*innen, Funker*innen. In den Gruppengesprächen kam es dann immer wieder vor, dass jemand bemerkte: ‹Ah, da war ich auch dabei› und so die Erzählung ergänzen konnte», führt sie weiter aus.

Geschichte weitergeben

Neben den Zeugenaussagen finden sich im Museum auch physische Erinnerungsstücke aus der Zeit, als sich die Guerilla im Dschungel von Petén versteckt hielt. Dem ‹dreckigen Krieg› vom guatemaltekischen Staat und den verschiedenen widerständigen Guerillatruppen sind zwei Räume gewidmet. Ihnen voran wird die Geschichte der Mayas, die Kolonialgeschichte und die Ausbeutung durch die United Fruit Company aufgerollt. Mit dem Museum wollen die jungen Initiant*innen die Realität ihrer Familien in die guatemaltekische Geschichte einschreiben und so gegen das staatliche Verdrängen und Vergessen ankämpfen. «Für uns war klar: Wenn unsere Geschichte in der offiziellen Geschichtsschreibung und im Unterricht in Guatemala ausgeklammert wird, müssen wir sie selbst erzählen,» so Banessa. Die Erinnerung an die Vergangenheit wach zu halten, bedeutet für sie, die von Seiten des Staates begangenen Verbrechen an der Bevölkerung nicht zu vergessen und von der Vergangenheit für die Gegenwart zu lernen.

«In erster Linie wollen wir mit dem Museum dazu beitragen, die Geschichte und das politische Selbstverständnis, auf dem die Gründung von Nuevo Horizonte beruht, zu verstehen. Es geht darum, die Identität von Nuevo Horizonte anzuerkennen und das Wissen an die neuen Generationen weiterzugeben», erklärt Banessa. Sowohl national als international sollen die Leute die Geschichte von Nuevo Horizonte kennen und sich über die Folgen des bewaffneten internen Konfliktes, von Folter, Verfolgung, Tod und Verschwindenlassen informieren, wünscht sich die junge Mitgründerin. Und das passiert auch bereits: Studierende aus den städtischen Universitäten, Besucher*innen aus den umliegenden Departements oder aus dem Ausland besuchen das einzigartige Museum. Und die, die ihre Geschichte erzählt haben, kommen, «um zu schauen, wo ihre Erinnerungen geblieben sind».

¿Florecerás Guatemala?

Viele Erinnerungen werden aktuell wieder aufgewühlt. Seit dem überraschenden Wahlsieg des Präsidentschaftsduos Bernardo Arévalo und Karin Herrera des sozialdemokratischen Movimiento Semilla überschlagen sich die Ereignisse in Guatemala. Es ist von einem neuen ‹guatemaltekischen Frühling› die Rede – Florecerás Guatemala heisst es erneut auf den Strassen und in den sozialen Medien. Doch schnell hat die herrschende Elite gezeigt, dass sie zu allem bereit ist, um ihre Macht zu behalten. Seit Anfang Oktober legen von indigenen Bewegungen angeführte Massenproteste das ganze Land lahm. Die Forderung, die einen Grossteil der Bevölkerung eint: Die korrumpierte Generalstaatsanwältin Consuelo Porras und weitere korrupte Staatsanwälte und Richter, die den Machtwechsel verhindern wollen, müssen gehen.

Es sind historische Bilder. Ein anderes Guatemala ist zum Greifen nah. Doch es ist auch ein Wechselbad zwischen Hoffen und Bangen. Denn der sogenannte ‹Pakt der Korrupten› setzt auf Repression und für viele Bewohnende von Nuevo Horizonte wecken Polizeipatrouillen und kreisende Militärhubschrauber traumatische Erinnerungen. Gerade in diesen Momenten sind Räume des gemeinsamen Bewusstseins und der Vergangenheitsbewältigung enorm wichtig. «Das Museo de Nuevo Horizonte ist vor allem auch ein Ort der Solidarität», bekräftigt Banessa. In Anlehnung an die bekannte Aufstandsbekämpfungsstrategie ‹dem Fisch das Wasser entziehen› heisst der Leitspruch des Museums: Solidarität ist für die Menschen wie das Wasser für die Fische.


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