Kapitalismus macht krank – und zwar nicht im übertragenen Sinn. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Zugang zu Gesundheitsversorgung, die Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen, sowie die fortlaufende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen sind alles Symptome eines Systems, das Profit über Menschen und andere Lebenswelten stellt.

Maja Hess, Hauptrednerin des 1. Mai 2024 und Präsidentin von medico international schweiz, arbeitete als Ärztin und Psychiaterin unter anderem in Nicaragua, El Salvador, Kurdistan und Palästina. In ihrer Rede spricht sie von Widerstandsbewegungen, den Kampf um Gesundheit für alle weltweit und die Bedeutung der internationalen Solidarität: 

«Kapitalismus macht krank - und nur Widerstand kann uns heilen»

Genossinnen und Genossen, compañeras y compañeros, Freundinnen und Freunde, Hevalno


Wir stehen heute hier zusammen unter dem Leitthema «Kapitalismus macht krank»

Kapitalismus macht krank und Gesundheit ist ein hoher Wert für uns alle, sie ist keine Ware, die vermarktet oder verhandelt werden kann! Kapitalismus und seine Auswirkung zerstören Menschen, Gemeinschaften, soziale Zusammenhänge und diese eine wunderbare Welt. Kapitalismus macht krank und nur Widerstand kann uns heilen!

Aber vorerst ein grosser Dank an das 1. Mail Komitee, das mich zu dieser Rede eingeladen hat. Ich stehe hier, weil ich auf meinen Reisen und meinen Einsätzen in Gesundheitsprojekten im globalen Süden viele unglaublich mutige und engagierte Gesundheitsarbeiter*innen, feministische Kämpferinnen, Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen getroffen oder von ihnen gehört habe. Ich werde von ihnen sprechen, denn sie können heute nicht hier stehen. Sie haben alle Hände voll zu tun. Und nicht wenige von ihnen wurden getötet, wie die über 450 Health Workers in Gaza oder andere Freund*innen in Rojava. Ich erinnere mich auch an Ärzt*innen aus der Befreiungsbewegung in El Salvador, die bei ihrer Arbeit umgebracht wurden. Ich werde von Ihnen reden. Somit werden sie hier präsent sein.

Zum Beispiel mein Freund Badal, Ambulanzfahrer im Shengal, im Nordirak. Er ist Ezide. Vor fast genau 10 Jahren, als der IS den Genozid und Femizid an den ezidischen Menschen beging, nahm Badal eine Kalaschinkov, mehr hatte er nicht, um mit anderen Männern gegen den IS zu kämpfen. Heute ist er Teil des Widerstandes gegen die türkischen Angriffe auf den Shengal. Und er fährt mit der Ambulanz zu den Flüchtlingslagern, um mit einer kleinen Equipe die Menschen medizinisch zu versorgen. Er erzählte von Ezidischen Frauen, die sich mit fast nichts dem IS entgegenstellten. Sie wollten nicht versklavt werden, sie nahmen den Tod auf sich, um andere junge Frauen zu retten. Sie sollen nicht vergessen werden. Sie haben bis zuletzt Widerstand geleistet.

Frauen werden weltweit wegen ihres Geschlechtes ermordet. In der Schweiz wird alle 2 Wochen eine Frau durch ihr nahes männliches Umfeld umgebracht! Wir leisten Widerstand gegen jeglichen Feminizid in der Schweiz und weltweit!! Wir wehren uns gegen die weltweit verbreitete Straflosigkeit für die Täter! Ni una menos!!

Der chilenische Sänger Victor Jara sang vor über 50 Jahren das Lied der Gruppe Amerindios: «Hay pocos que tienen mucho, hay muchos que tienen poco» (es gibt wenige, die viel haben und viele, die wenig haben) und weiter: «es gibt wenige, die stehlen viel, dafür viele, die wenig essen». Das ist Kapitalismus kurz und knapp erklärt. Victor Jara, Musiker und Kommunist, wurde wegen seines Widerstandes im September 1973 von der Pinochet Diktatur brutal gefoltert und ermordet. Sein allerletztes Lied, das er sang, bevor er ermordet wurde, war:  Venceremos! - Wir werden siegen. Seine Stimme ist nie verstummt.

Ungleichheit macht viele Menschen arm. Armut macht krank, weil nie genug da ist. Zu wenig Essen oder krankmachendes Essen, kein sicheres Zuhause, miserable oder keine Gesundheitsversorgung, schlechte oder keine Medikamente, kein Zugang zu wichtigen Impfungen. Im globalen Süden sterben immer noch Kinder an Masern, weil sie keine Impfung erhalten und weil ihre Immunität dieser Erkrankung nicht standhalten kann. Armut löst Angst und existenziellen Stress aus und dieser Stress macht krank. Die ständige Angst um das eigene Leben und das der Kinder und Familie, macht körperlich und seelisch krank. Dieser Stress raubt den betroffenen Menschen viele Lebensjahre, hier und im globalen Süden. Gerade geflüchtete Menschen leiden hier in der reichen Schweiz permanent an diesem Stress.

Gefangene leiden an diesem bedrohlichen Stress. Zum Beispiel die aktuell über 60.000 politischen Gefangenen in der Türkei, die Misshandlung und Folter erleiden. Sie sind im Gefängnis, weil sie als Journalist*innen, Politiker*innen, Kulturschaffende, Kurd*innen Widerstand leisten gegen den Faschismus der Regierung Erdogan. Ihre prominentesten Gefangenen sind Selahtin Demirtas, Figen Yüksekdag, ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, und Abdullah Öcalan, der seit mehr als 25 Jahren in Isolationshaft festgehalten wird und dem alle Rechte verweigert werden. Überall auf dieser Welt werden Aktivist*innen eingekerkert, weil sie sich der kapitalistischen Logik entgegenstellen. Dabei sind es genau diese Menschen, welche die Menschlichkeit und den Kampf um Gerechtigkeit auf dieser Welt hochhalten! Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Kapitalismus macht krank, weil er die Menschen bis hin zu ihrer Vernichtung ausbeutet.


Das Patriarchat kennt keine Grenzen bei der Ausbeutung der weiblichen Körper, der Gefühle und des Denkens von Frauen, ihrer Arbeitskraft und ihrer Care-Arbeit! Die ökonomische und sexuelle Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen und diverser Menschen durch das Patriarchat sind eine Grundlage der Kapitalanhäufung. Deswegen werden Frauen manipuliert, ihre Sexualität kontrolliert und sie werden mit Gewalt unterworfen. In El Salvador, in Zentralamerika, werden junge Frauen aus armen Verhältnissen zu 40 Jahren Knast verurteilt, da sie angeblich abgetrieben und damit ihr Baby ermordet haben! In Wirklichkeit haben sie ihr Baby verloren, weil das Gesundheitssystem für Frauen ohne Geld keine angemessene Versorgung leistet. Sie wurden ins Gefängnis gesteckt, da die Gesetze und alle, welche diese befürworten auf barbarische Weise patriarchal sind. Teodora der Organisation Freie Frauen, «Mujeres libres», ist eine von ihnen. Sie hat nie aufgegeben. Sie hat sich mit anderen Frauen organisiert. Sie wurde national und international von Frauenorganisationen unterstützt.  Sie ist freigekommen. Sie kämpfte weiter für alle, die noch im Knast sitzen, bis alle frei sind. Die letzte Gefangene, Lilian, ist kürzlich fei gekommen. Teodora hat diesem krankmachenden, patriarchalen System die Stirn gezeigt. Sie hat gemeinsam mit anderen organisierten Frauen einen Sieg errungen! Wir fordern in Recht auf sichere Abtreibung für alle Frauen weltweit, in Lateinamerika und auch in den USA, unabhängig von ihrem sozialen oder ökonomischen Status! Denn jedes Jahr sterben weltweit noch etwa 39.000 Frauen bei unprofessionell durchgeführten Abtreibungen.

Das kapitalistische System bedient sich des Rassismus und der Ausgrenzung, um Menschen zu kontrollieren, besser ausbeutbar zu machen und von gesellschaftlichen Möglichkeiten und der Teilhabe auszuschliessen.


Dies manifestiert sich aktuell auch am EU-Asylpakt, der ein weiterer Abbau von Asylrechten darstellt. Haftlager an Europas Außengrenzen, sogenannt neue »sichere Drittstaaten«, Schnellverfahren ohne Prüfung der Fluchtgründe ist die erschreckende Zukunft auch der Schweizer Asylpolitik. Geflüchtete werden auf europäischem Boden nur noch Mauern, NATO-Stacheldraht und Sicherheitspersonal zu Gesicht bekommen. Viele, die über Libyen und das Mittelmeer oder über den Landweg nach Europa gelangen, sind traumatisiert. Sie haben Gewalt und Angst ohne Ende erlebt, sie haben ihre Freunde sterben sehen, sie wurden geschlagen, bedroht und viele sexuell misshandelt. Manchmal sind sie so traumatisiert, dass sie ihren Alltag kaum mehr bewältigen können. Sie sind krank gemacht worden. Wir fordern ein Bleiberecht für Alle! Wir kämpfen für globale Bewegungsfreiheit für alle, für eine Welt ohne Grenzen.

Kapitalismus macht krank, indem er gierig diese eine wunderbare Welt rücksichtslos ausbeutet und zerstört, die Atmosphäre vergiftet, die Diversität vernichtet.


Schweizer Rohstoffkonzerne wie Glencore und andere Multis aus den Industrieländern streichen den Profit aus den Ressourcen im globalen Süden ein, die sie aus Gesundheit und Umwelt schädigendem Abbau gewinnen. Was vor hunderten Jahren als Kolonialismus begonnen hat, führt der globale Norden, auch die Schweiz, heute fort. Und der Kolonialismus ist ein wichtiger Boden, auf dem der Kapitalismus seinen Erfolg baute - und noch baut! Diese Konzerne gehen in Zusammenarbeit mit den lokalen Regierungen gegen Umweltaktivist*innen im globalen Süden vor und die Umweltaktivist*innen in den Industrienationen werden massiv kriminalisiert! Umweltaktivist *innen im Süden Mexikos, in Zentralamerika, in Nigeria, in Kolumbien, Brasilien, Peru, in Nepal, die Mapuches im Süden Chiles werden verfolgt, bedroht, gefoltert und umgebracht. Über 1700 junger Aktivist*innen sind in den letzten 13 Jahren ermordet worden! Sie stemmten sich gegen die kapitalistische Logik der grenzenlosen und brutalen Ausbeutung unserer Erde, gegen die Zerstörung ihrer und unserer Lebensgrundlage. Ihren Kampf bezahlen sie mit anhaltender Angst, Unsicherheit und häufig mit ihrem Leben. So wie Berta Caceres aus Honduras, Lenca-Indigene Umweltaktivistin, die für ihr Engagement für die Umwelt im März 2016 getötet wurde. Oder Lolita Ixzaquic aus Guatemala, welche wegen Morddrohungen ins Exil musste und heute auf dem Podium sprechen wird. Lolita sagt, Kraft gibt mit der Verbindung zu den Bewegungen, das Netzwerk des Lebens! Berta Caceres sagte in einem Interview 2013: “Die honduranische Armee hat eine Todesliste mit 18 Namen von Menschenrechtsaktivist*innen. Mein Name steht an der Spitze. Ich möchte leben und ich möchte noch sehr viele Dinge in dieser Welt tun. Aber ich habe nicht ein einziges Mal überlegt, den Kampf für unser Lenca-Gebiet, für ein Leben in Würde aufzugeben!” Wir fordern ein Ende dieser rücksichtlosen und gierigen Ausbeutung unserer Erde. Die Schweizer Multis müssen für die von ihnen verursachte Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden. Konzerninitiative jetzt!

Krieg und Krise gehören zum Kapitalismus


Die aktuell entfesselte Produktion von Waffensystemen, die einige wenige sehr reich macht, bezahlen wir in den Industrieländern mit unseren Steuergeldern, die Menschen im globalen Süden jedoch mit ihrem Blut, mit ihrem Leben. Und das ist ein Verbrechen gegen die Menschheit, gegen die Menschlichkeit.

Ein Kollektiv aus dem Sudan ist an der heutigen Demo mitgelaufen. Die Grossmächte wie die USA und Russland streiten sich um das Gold und die Bodenschätze aus dem Sudan. Dafür bewaffneten sie verschiedene paramilitärische Gruppen, welche diesen schrecklichen Genozid in Darfour begangen haben und weiterhin jegliche Form von Gewalt, sehr häufig auch sexualisierte Gewalt massiv als Kriegswaffen gegen sogenannt nicht arabische Stämme einsetzen.  Auch die Schweiz ist ganz diskret an dieser “Sicherung” der Goldausbeutung beteiligt. Viele Menschen im Sudan sind im Widerstand und wollen eine neue Gesellschaftsform aufbauen. Lokale Widerstandskomitees organisieren sogenannte Emergency Response-Räume, um die Evakuierung bedrohter Menschen in sichere Dörfer, die Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten zu ermöglichen. Sie haben aus zerstörten Gesundheitseinrichtungen Medikamente für die Vertriebenen bereitgestellt. Aus der kollektiven Organisierung heraus stemmen sie sich gegen die Entmenschlichung und für das Überleben, obwohl sie durch vom Westen unterstützte Kräfte mit Gewalt daran gehindert werden.

Genauso setzen sich die Gesundheitsarbeiter*innen in Rojava für das Überleben ein, die von türkischen Drohnen bei ihrer Arbeit getötet werden! Und genauso tun dies die Menschen in Gaza, wie unsere Freunde und Freundinnen der uns bekannten Organisation PMRS. Sie sind seit Beginn des Krieges im Einsatz. Sie haben teilweise versucht, ihre Familien im Süden in Sicherheit zu bringen. Sie selbst sind zurück in die Angriffsgebiete, um Verletzte und andere Notfälle zu behandeln. Ich denke an alle Ärztinnen und Ärzte, Pflegende, Ambulanzfahrer und viele mehr, die in den Spitälern ausgeharrt haben, sich dem Evakuierungsbefehl widersetzt und den Angriffen der Israelischen Armee widerstanden haben. Viele sind durch Bombardierungen der Spitäler und bei ihrer Arbeit getötet worden. Die andern machen weiter, mit blossen Händen, da das medizinische Material fehlt. Mit brennendem Herzen versuchen sie so viele Menschen zu retten, wie sie können. Das bedeutet für sie Widerstand gegen den mörderischen Angriff der Israelischen Streitkräfte. Angriffe gegen Gesundheitsarbeiter*innen und gegen Gesundheitseinrichtungen sind ein Verstoss gegen das Völkerrecht und die Genfer Konvention!!

Und was tut die offizielle Schweiz? Wie setzt sie sich für die Einhaltung des Völkerrechts und der Genfer Konventionen ein? Wie für eine alternative Lösung in diesem Konflikt, und wie setzt sie sich für die Freilassung aller Geiseln ein? Ich weiss es nicht, was ich weiss, ist, dass der Bundesrat und das Parlament weiterhin die Gelder für die UNRWA blockieren! Die UNRWA ist die einzige in Gaza noch funktionierende Organisation, welche mit über 3000 lokalen palästinensischen Mitarbeiter*innen den Menschen Zugang zu überlebenswichtigen Gütern gewährleisten kann, falls sie vorhanden sind. Die Mitarbeitenden der UNWRA kommen aus Gaza, kennen Gaza und setzen sich seit Beginn des Krieges wie auch zuvor für die Zivilbevölkerung ein! Seit Beginn des Krieges sind weit mehr als 100 UNRWA Mitarbeiter*innen getötet worden. Kein anderes Hilfswerk kann leisten, was sie tun. Aber der Bundesrat biedert sich dem rechten Flügel des Parlaments an und hat keinen Mut, den einzig richtigen Entscheid zu fällen: die Hilfsgelder für die UNRWA freizugeben. Es geht um das Leben und Überleben der Zivilbevölkerung in Gaza. Sogar der Internationale Gerichtshof sagt, dass die palästinensische Bevölkerung von einem Genozid bedroht sei, und ordnete an, dass Israel die humanitäre Hilfe sicherstellen muss. Wir fordern: Ceasefire now!

Genossinnen, compañeros,


In Zeiten, in denen es einfacher ist, sich ein Ende der Welt vorzustellen als ein Ende des Kapitalismus, braucht es dringend unsern Widerstand! Wir können und dürfen die Essenz des kapitalistischen Realismus nicht akzeptieren, der tief in unser Denken und unser Handeln eingepflanzt wurde. Er durchdringt unsere sozialen Netzwerke und Beziehungen - unser ganzes Sein.

Kapitalismus macht krank und nur Widerstand kann uns heilen!

Deshalb kämpfen wir gegen den Kapitalismus und gegen jegliche ihm verbundenen Herrschaftssysteme wie Faschismus, Kolonialismus, Rassismus, Sexismus und Patriarchat, Antisemitismus und Islamophobie
Wir fordern ein Ende aller Kriege! Ein Ende der Straflosigkeit für die Morde und die Verfolgung von Aktivist*innen weltweit.
Wir fordern einen sofortigen und anhaltenden Waffenstillstand in Gaza und die Freilassung aller Geiseln.
Wir fordern die Freilassung aller politischer Gefangenen!
Wir fordern gerechte Gesellschaftssysteme, in denen der Zugang zur Gesundheit für alle garantiert ist.

HOCH LEBE DIE INTERNATIONALE SOLIDARITÄT!

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Bild: Sabine Rock