Die Nachrichten und Bilder aus Gaza und Rojava sind schwer zu ertragen und lassen an der Menschlichkeit zweifeln. In beiden Regionen werden Wohngebiete und zivile Infrastruktur angegriffen. Gezielt wird die Lebensgrundlage der Bevölkerung zerstört. Beide Regionen stehen am Beginn einer humanitären Katastrophe.

Alice Froidevaux

Nach dem grausamen und mörderischen Angriff der Hamas gegen israelische Zivilist*innen dauert der Vergeltungsschlag der israelischen Armee gegen die gesamte Bevölkerung Gazas an und zeigt ein verheerendes Ausmass. Auch bisher als sicher geltende Quartiere werden ohne Vorwarnung und grossflächig bombardiert. Sogar Gesundheitseinrichtungen und Ambulanzen werden beschossen. Die vom israelischen Verteidigungsminister ausgerufene totale Abriegelung des Gazastreifens (keine Elektrizität, kein Treibstoff, keine Lebensmittel, keine Wasser!) ist ein völkerrechtswidriger Angriff auf das Leben aller Menschen in Gaza. Geradezu zynisch war der Aufruf des israelischen Premierminister Netanyahu an die Bevölkerung des eingezäunten Gazastreifens, sie sollen ihre Wohngebiete – in vielen Fällen über die Jahre zu Städten gewordene Flüchtlingslager – verlassen und Schutz suchen.
 
Unterdessen bombardiert die Türkei ungeachtet von der Weltöffentlichkeit seit Tagen Nordostsyrien und zerstört gezielt die Lebensgrundlagen der Bevölkerung in der Region. Auch hier legitimiert die türkische Regierung die Bombardierungen als Vergeltung, konkret mit Verweis auf den PKK-Anschlag in Ankara vom 2. Oktober. Angeblich soll einer der Attentäter aus Nordostsyrien kommen – Beweise gibt es dafür keine, aber das spielt ohnehin keine Rolle. Am 3. Oktober gab Aussenminister Fidan auf einer Pressekonferenz alle zivilen Ziele, also auch Elektrizitätswerke, Wasserpumpstationen und Gesundheits- und Bildungseinrichtungen in Nordsyrien und Nordirak zum Abschuss frei. Auch hier gelten die Angriffe einem Volk ohne Staat. Auch hier sind zehntausende bereits vertriebene Menschen von den Bombardierungen und der völkerrechtswidrigen Zerstörung von ziviler Infrastruktur betroffen.

Medizinische Versorgung vor dem Kollaps

Sowohl in Rojava als auch in Gaza wird gezielt auch medizinische Infrastruktur angegriffen. Das Indonesia-Hospital in Nord-Gaza wurde direkt bombardiert. Das Corona-Krankenhaus in Dêrik, eines der wichtigsten Krankhäuser dieser Art in Nordostsyrien, wurde komplett zerstört. Auch Ambulanzen werden beschossen – das Gesundheitspersonal arbeitet unter Lebensgefahr. Die Zahlen getöteter Rettungssanitäter*innen in Gaza steigt stetig an.
 
Neben den direkten Angriffen ist die aktuell grösste Bedrohung für die medizinische Versorgung in Gaza und Rojava die fehlende Stromversorgung der Krankenhäuser. Die medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond berichtet: «Wie alle öffentlichen Einrichtungen in der Region sind auch die Gesundheitseinrichtungen in den Gebieten Derik, Qamishlo, Hasake, Amuda und Dirbasiya durch den Ausfall der Stromversorgung aus dem Hauptnetz schwer getroffen. Impfstoffe, Blutkonserven und Medikamente, die ständig gekühlt werden müssen, unterliegen dem Risiko unwirksam und unbrauchbar zu werden. Zudem sind alle Kliniken für ihr Funktionieren in hohem Masse auf elektrische Energie für Röntgengeräte, Inkubatoren, Beatmungsgeräte etc. angewiesen.»
 
«Wenn das Benzin für die Notgeneratoren in Kürze ausgehen wird, wird dieser Ort zum Massengrab,» sagt der medizinische Direktor des Al-Shifa Hospitals, dem grössten Krankenhaus in Gaza. Nach Informationen der Gesundheitseinrichtungen sind im Gazastreifen zurzeit 100 Neugeborene und über 1000 Dialysepatient*innen auf elektrische medizinische Geräte angewiesen, um zu überleben. Schon lange sind die Kapazitätsgrenzen der Krankenhäuser überschritten. Im Al-Shifa Hospital, das für 500 Patient*innen ausgerüstet ist, hoffen zurzeit rund 4000 Verletzte auf eine Behandlung.

Israel verhindert humanitären Korridor

«Es besteht die dringende Notwendigkeit, einen humanitären Korridor einzurichten, der ungehinderte, lebensrettende Überweisungen von Patient*innen und die Beförderung von humanitärem Personal und lebenswichtigen medizinischen Gütern ermöglicht», erklärte die Weltgesundheitsorganisation. Schon zuvor hatte auch das Welternährungsprogramm an die Gewährleistung der sicheren Durchreise seiner Mitarbeitenden und der ungehinderten Lieferung von Lebensmitteln appelliert. Laut Medienberichten sind die Vereinten Nationen in Verbindung mit ägyptischen Behörden, um den Zugang für humanitäre Hilfslieferungen über den südlichen Grenzübergang Rafah nach in den Gazastreifen zu sichern. Israels klare Antwort: Drohungen gegen Ägypten, den Grenzposten in Rafah und jeden Hilfskonvoi in den Gazastreifen zu bombardieren.

Dringender Aufruf für medizinisches Material

«Die medizinischen Vorräte sind jetzt bald auf Null. Es werden dringend weitere Mittel gebraucht!» Die medico-Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society (PMRS) ruft über ihre Kanäle zur dringenden Unterstützung auf. Zurzeit werden Lieferungen in den Gazastreifen verhindert – sobald die totale Abriegelung aufgehoben wird, sind weitere medizinische Nothilfe und psychosoziale Unterstützungsprogramme für Gaza dringend nötig! Auch der Kurdische Rote Halbmond berichtet laufend über die Situation in Rojava und ruft zur Unterstützung auf für die Notversorgung der Bevölkerung. Das Ausmass der Zerstörung ist schon jetzt gross. Die Angriffe halten aktuell noch weiter an. Und der kalte Winter steht bevor. Unsere Kolleg*innen in Gaza und Rojava leisten unter ständiger Bedrohung und extremer Belastung Unglaubliches. Unterstützen wir sie dabei! 

Appell an die Menschlichkeit 

In einem emotionalen Newsletter ruft die israelische medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel (PHRI) derweil zur Menschlichkeit auf: «Der Angriff der Hamas vom vergangenen Samstag darf nicht dazu benutzt werden, die zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens wahllos anzugreifen. Rache kann kein politischer Aktionsplan sein und wird zu keiner Lösung führen. Die Bemühungen müssen sich jetzt auf die Aushandlung eines Abkommens für die friedliche Freilassung der Entführten konzentrieren. Selbst in diesem Moment des Schmerzes und der Angst müssen wir unsere Menschlichkeit bewahren und an den Werten der Menschenrechte festhalten. Israelis und Menschen auf der ganzen Welt müssen ihre Stimme deutlich erheben und ein sofortiges Ende dieses schonungslosen Angriffs auf Gaza fordern. Wir müssen uns entschieden gegen die Verletzung unschuldiger Zivilist*innen auf beiden Seiten wenden und die sofortige Freilassung aller Entführten fordern.»
 
Wir stehen weiterhin, so gut wie es unter diesen Umständen möglich ist, mit den medico-Partner*innen und unseren Freund*innen in Kontakt. Wir sind froh, um jedes Lebenszeichen. Für die Menschen im Gazastreifen bedeuten solche direkten Verbindungen nach aussen viel. Unseren Kurdischen Freund*innen sind wir es schuldig, unser Mögliches dazu beizutragen, dass auch Rojava in dieser Zeit nicht vergessen geht.

Herzlichen Dank für Ihre Solidarität!
Das medico-Team

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