Krankenhäuser und medizinisches Personal stehen unter hohem völkerrechtlichem Schutz. Doch immer häufiger werden sie angegriffen.
Felix Litschauer
Mitarbeitende der PMRS-Gaza stellen das Gesundheitszentrum im Flüchtlingscamp Jabalia nach Angriffen der israelischen Armee wieder instand. ©PMRSNach bald einem Jahr Krieg in Gaza liegt die gesundheitliche Infrastruktur für 2,3 Millionen Menschen in Trümmern, darunter auch Einrichtungen der medico-Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society. Über 500 Gesundheitsarbeiter*innen wurden bislang getötet – mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2022 weltweit. Die entgrenzte militärische Gewalt in Gaza ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, in der Gesundheit zur Zielscheibe wird.
Eigentlich geniessen medizinische Einrichtungen und ihr Personal im Krieg völkerrechtlichen Schutz. Unter Rückgriff auf den hippokratischen Eid verwirklichen die Grundsätze des Internationalen Roten Kreuzes seit 1863 den Anspruch, dass kranke und verwundete Kombattant*innen jeder Kriegspartei behandelt werden können. Laut der Genfer Konvention von 1949 dürfen Ge-sundheitseinrichtungen «unter keinen Umständen angegriffen werden, sondern sind von den Konfliktparteien jederzeit zu achten und zu schützen».
In den letzten 15 Jahren hat sich die Gewalt gegen das Gesundheitswesen immens gesteigert. Der jährliche Bericht der Safeguarding Health in Conflict Coalition (SHCC) verzeichnete für das Jahr 2022 fast 2000 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und ihr Personal, mehr als je zuvor. Der Bericht dokumentiert die Inhaftierung, Misshandlung und Ermordung von Ärzt*innen in Myanmar, im Iran und in Afghanistan, weil sie hilfsbedürftige Menschen behandelt hatten. Er erinnert an die Tötung von Helfer*innen in Pakistan, weil sie Kinder gegen Infektionskrankheiten geimpft haben, und benennt mehr als 700 Militärschläge Russlands gegen die ukrainische Gesundheitsversorgung. Mit dem Krieg in Gaza werden die Zahlen im nächsten Bericht noch einmal massiv steigen.
Den Beginn dieser neuen Dimension von Angriffen gegen das Gesundheitswesen markierte das Massaker von Mullivaikkal in Sri Lankas Bürgerkrieg im Jahr 2009. Binnen weniger Monate wurden über 40000 Menschen getötet, auch durch gezielten Beschuss von Gesundheitseinrichtungen. Die singhalesische Regierung rechtfertigte ihre Kriegsführung mit einer diskursiven Figur, die die USA als Reaktion auf die Anschläge vom 11.September 2001 in die Welt gesetzt hatten: Sie befinde sich in einem «war on terror». Dieses Narrativ löst die Unterscheidung zwischen zu schützenden Zivilist*innen und militärischen Gegnern auf und degradiert die gegenüberstehende Kriegspartei zu einem unterschiedslos bösen, auszulöschenden Feind. Die Regierung Sri Lankas definierte die gesamte tamilische Bevölkerung als terroristisch. Die internationale Gemeinschaft liess die Armee gewähren.
Die Strategie setzte sich durch: Im syrischen Bürgerkrieg definierte das Regime sämtliche von der Opposition kontrollierten Gebiete und alle Menschen darin als terroristisch – und folglich als legitime militärische Ziele. Mit dem Kriegseintritt Russlands 2015 intensivierten sich gezielte Angriffe auf Ge-sundheitseinrichtungen in einem nie da-gewesenen Ausmass. Die Türkei verbrämt ihre Angriffe auf das selbstverwaltete Nordsyrien immer wieder als legitimen Kampf gegen kurdischen Terrorismus. Die meisten Krankenhäuser der medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond sind inzwischen zerstört oder beschädigt worden. In praktisch jedem Krieg der vergangenen Jahre greifen ähnliche Mechanismen, sei es im Südsudan, im Jemen oder in Afghanistan, wo die US-Armee 2015 das Spital der Ärzte ohne Grenzen in Kunduz zerstörte.
Auch die Resolution 2286 des UN-Sicherheitsrats von 2016, die Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen als mutmassliche Kriegsverbrechen brandmarkt, hat keine Veränderung bewirkt. Die Zerstörung der Geburtsklinik in Mariupol 2022 rechtfertigte die russische Regierung damit, dass dort ukrainische Kämpfer stationiert gewesen seien. Die kriegsführenden Parteien berufen sich auf eine Ausnahmeregelung der Genfer Konvention, wonach Gesundheitseinrichtungen ihren Schutzstatus verlieren, sobald sie militärisch genutzt werden. Die Voraussetzungen für einen rechtmässigen Angriff sind jedoch hoch. Es muss nachweislich alles dafür getan werden, um Schaden von Patient*innen und medizinischem Personal auf ein Minimum zu beschränken. Angriffe, die unverhältnismässigen Schaden an Zivilist*innen verursachen, gelten als Kriegs-verbrechen. Doch solch ‹Kleingedrucktes› interessiert wenig, wie der Fall der israelischen Angriffe auf das Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza zeigt.
In jüngsten Kriegen ist die Zerstörung medizinischer Infrastruktur weit mehr als Kollateralschaden, sie hat Methode. Die Fachzeitschrift The Lancet sprach bereits 2016 von einer «weaponisation of health care». Gemeint ist die Strategie, den zwingenden Bedarf der Menschen nach Gesundheitsversorgung als Waffe gegen sie einzusetzen, indem man ihnen diese gewaltsam vorenthält. Diese entgrenzte Kriegsführung zielt auf Demoralisierung. Gerade im Krieg bedeutet der Zusammenbruch der gesundheitlichen Versorgung unmittelbares Leid für Zivilist*innen und wirkt tief in die Psyche. Ihr völkerrechtlicher Schutz macht Krankenhäuser zu vermeintlich sicheren Zufluchten. Es ist kein Zufall, dass Tausende auf dem Gelände des Al-Shifa-Krankenhauses Schutz gesucht haben. Indem all das in Schutt und Asche gelegt wird, wird auch jegliche Hoffnung zerstört.
Sri Lanka, Syrien, Ukraine und Gaza sind nur die prominentesten Beispiele des Bedeutungsverlusts des Völkerrechts. «Es scheint, als hätte die Welt ihren moralischen Kompass verloren», sagte WHO-Sprecherin Margaret Harris. Um diesen neu auszurichten, müssten die mutmasslichen Kriegsverbrechen konsequent juristisch aufgearbeitet werden. Das fordert auch die Resolution 2286 des UN-Sicherheitsrates.