Nach pandemiebedingter Pause war im September 2022 endlich wieder eine Projektreise nach Guatemala möglich. Noch ganz frisch bei medico und mit wenig Vorkenntnissen zu Guatemala durfte ich die langjährige Projektverantwortliche Edith Bitschnau begleiten – Ein Erfahrungsbericht der eindrücklichen Reise durch 12 Comunidades.

Muriel Fischer

Zwei Ixil Frauen tauschen sich während eines Heilpflanzen-Workshops aus

Legende [xxx]

Mein erster Eindruck von Guatemala City ist dunkel undmenschenleer. Ob das an den Jahren der Militärdiktatur, der fehlenden Beleuchtung oder der Regenzeit liegt, bleibt unklar. Wir starten unsere Projektreise frühmorgens mit dem Pick-Up. Ich bin ganz gespannt und weiss nicht, was mich erwartet. Ich war zwar in Nicaragua oft mit dem Pick-Up unterwegs – trotzdem ist hier alles neu. Auf dieser Reise durch verschiedene Regionen Guatemalas werde ich einen wertvollen Einblick bekommen in dieses geographisch und gesellschaftlich zerklüftete Land.

Der Weg ans Ende der Welt

Wir fahren den ehemaligen Zuggleisen entlang, auf welchen früher die Bananen an die Küste transportiert wurden. Vor den Autofenstern erstreckt sich der riesigeMarkt, auch ausserhalb der überdeckten Martkhallen. Nach einem Frühstücks-Stopp machen wir uns auf den Weg in Richtung Norden zu den Ixiles – eine der 23Maya-Ethnien, die als besonders widerständig gilt und an welcher der General Ríos Montt 1982 und 1983 einen gezielten Genozid verübte.

Vor unsere Reise habe ich den Film 500 años von Pamela Yates geschaut, der vom Kampf der Anerkennung des Genozides an den Ixiles handelt. Ich habe die Stadt Nebaj und ihre Bevölkerung also bereits auf dem Bildschirm gesehen und plötzlich bin ich vor Ort. Die Ankunft in den Comunidades ist dann nicht ganz so plötzlich: Der Weg ist lang und beschwerlich, voller Schlaglöcher und durch die starken Regenfälle abgerutschter Erde. Je nach Korruptheitsgrad des Bürgermeisters werden die Strassen repariert oder sind nur dank Initiative der Bewohner*innen weiter oder wieder befahrbar. Nicht nur die Befahrbarkeit der Strassen, sondern auch praktisch alles andere hängt von der Selbstorganisation der Menschen ab. Es gibt zwar auch in ländlichen Gebieten Gesundheitszentren, diese sind aber schlecht ausgerüstet und verfügen zum Teil nicht einmal über ein Grundsortiment an Medikamenten. Wenn man Glück hat, sind Pfleger*innen vor Ort. Ärzt*innen trifft man dort eher selten an. Umso wichtiger ist das Wissen über Heilpflanzen, um sich selbst, Familienangehörige, die Nachbarschaft sowie Haus- und Nutztiere behandeln zu können.

Pflanzenmedizin als Chance

Die medico Partnerorganisation Asociación Guatemalteca de Personas con Discapacidad (AGPD) führt seit 2015 Workshops zum Anlegen von Heilpflanzengärten und zur Pflanzenverarbeitung durch. Seit letztem Jahr auch rund um Nebaj. Geleitet werden die monatlichen Kurse von Don Lorenzo, ein gut gelaunter und zu Spässen aufgelegter Mann. Es ist spürbar, dass die Leute ihn sehr schätzen und ihm vertrauen. Jeden Monat wird ein anderes Thema behandelt. Als erster Schritt wurde in jeder Gemeinde zusammengetragen, was die häufigsten gesundheitlichen Beschwerden sind. Das Sprechen über die eigenen Erkrankungen ist ein wichtiger Teil der Heilung. Oft fällt in diesem Kontext das Wort Nervios. Die Vergangenheit hat ihre Spuren nicht nur im Körper, sondern auch in der Psyche hinterlassen, und das Motto der Teilnehmenden lautet dementsprechend: ‹Die Wurzel der Krankheit finden›.

In Ixtupil der ersten und abgelegensten Gemeinde, die wir besuchen, blüht ein prächtiger Blumengarten vor dem Haus mit dem Gemeinschaftsraum, davor erstreckt sich das grün bewachsene Tal. Der Garten mit den Heilpflanzen liegt ein bisschen versteckt weiter weg, damit die Hühner und Schweine nicht gleich alles fressen, bis ein Zaun organisiert werden kann. Auch in Viucalvitz und Xeucalvitz – was im schweizerischen Kontext etwa mit Ober- und Niederhasli übersetzt werden könnte – wachsen die Heilpflanzen und Kräuter in den Gemeinschaftsgärten. In Viucalvitz wurden neben der sonstigen Ernte auch die Heilpflanzen durch die Stürme Eta und Iota zerstört. In Xeucalvitz grünt das Zitronengras, eine vielseitig eingesetzte Pflanze gegen Fieber, Nervios und den Coronavirus.

In den verschiedenen Gemeinden erzählen die Leute, welche Pflanzen sie als Prophylaxe gegen Covid-19 benutzten. Darunter fällt neben dem Zitronengras der Ingwer. Dieser wächst jedoch nur in warmem Klima und nicht im guatemaltekischen Hochland, welches zur Tierra Fría gehört. Die Preise für Ingwer sind mit der Teuerung aufs Doppelte gestiegen. Auch deshalb entstand der Wunsch eines Pflanzenaustausches mit den Gemeinden der Tierra Caliente. Neben dem teuren Ingwer werden auch andere Pflanzen wie Rosmarin und Eukalyptus zur Stärkung des Immunsystems eingesetzt. Die Leute witzeln: «Hier starb der Coronavirus ». Abgeschnitten von der Umwelt, weil der einzige Bus am Tag nicht mehr verkehrte und dazu eine Ausgangssperre galt, sorgten sie sich weniger um den Virus als um das Essen. Weder medizinische Versorgung, noch Ernährungssicherheit wird in Guatemala durch den korrupten Staat gewährleistet. Die AGPD versorgte ihre Mitglieder in der schlimmsten Zeit mit Grundnahrungsmitteln. Eine weitere Krise die zeigte, wie wichtig es ist, organisiert zu sein.

Transparenz und Vertrauen

In den Gemeinden Xonca und Nebaj ist diese Selbstorganisation besonders stark wahrnehmbar. Nach der Fahrt nach Xonca, auf der wir noch einige Teilnehmer*innen aufluden, sitzen wir in einem Kreis und werden von Nicolás begrüsst, der lokale Koordinator und Vorstandsmitglied der AGPD. Aus der Küche ertönt das Tätscheln der Tortillas, eine Frau wird gerufen, sie solle das Gebet sprechen. Alle stehen auf. Die Frau beginnt auf Ixil und einigen Worten Spanisch zu murmeln, immer mehr stimmen mit ein, das Gebet wird immer lauter, auch die Hühner beginnen zu gackern. Nach diesem Auftakt stellen sich die Teilnehmer*innen des Workshops vor, erzählen von ihren Beeinträchtigungen und Erkrankungen sowie von den Erfahrungen mit Pflanzenmedizin. Sie beraten gemeinsam über den Zusammenbruch

von Don Miguel, einem Teilnehmer, und was ihm helfen könnte. Alle sind sehr motiviert und hegen Zukunftspläne: Sie möchten die hergestellten Tinkturen, Balsam und getrockneten Pflanzen auf dem Markt verkaufen und Feliciana, die auch als Hebamme arbeitet und indigene Bürgermeisterin von Nebaj ist, als Gesundheitspromotorin einsetzen. Sie gibt bereits heute das erworbene Wissen weiter. Wenn sie etwas nicht weiss, fragt sie bei Don Lorenzo per Telefon nach. Wir gehen in den grosszügigen Gemeinschaftsgarten. Die Teilnehmer*innen erklären uns, wofür sie welche Pflanzen benutzen. Sie sprechen Ixil, Nicolás übersetzt.

Am Schluss des Treffens wird die Stimmung ernst. Ein Brief mit Forderungen der Teilnehmenden wird laut vorgelesen. Sie möchten vom Vorstand der AGPD wissen, warum der Übersetzer Don Pedro nicht mehr an den Workshops teilnimmt, und betonen die Dringlichkeit eines Ersatzes. Auch in den anderen Gemeinden wurde immer wieder angesprochen, dass die Menschen auf Übersetzung angewiesen sind. Vor allem die Frauen, weil sie weniger Spanisch sprechen. Ausserdem können einige Teilnehmer*innen nicht schreiben. Sich Dinge merken, ohne sie aufschreiben zu können, ist Herausforderung genug. Sie zusätzlich nur zur Hälfte zu verstehen, macht das Lernen doppelt schwierig. Die Gemeindemitglieder wollen nicht nur wissen, was mit Don Pedro passiert ist, sondern auch, wofür das Geld seines Lohnes jetzt eingesetzt wird. Ein wesentlicher Teil von Selbstorganisation ist Transparenz, auch über die Finanzen. In einem Land wie Guatemala, wo sich die Bevölkerung auf niemanden verlassen kann, als auf sich selbst, ist dies besonders wichtig.

Das Herz der Ex-Combatientes

Eine besondere Form der Selbstorganisation leben die Bewohner*innen von Nuevo Horizonte. Es sind vor allem ehemalige Guerilla-Kämpfer*innen und ihre Familien, die seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1996 hier wohnen. Im März letzten Jahres haben sie ihr Land abbezahlt und die Comunidad Nuevo Horizonte gehört jetzt offiziell ihren Bewohner*innen. Das ganze Land ist in kollektivem Besitz. Das schüzt auch davor, dass die Leute ihr Land in der Krise verkaufen, wie dies vielerorts momentan geschieht. In Nuevo Horizonte gibt es eine touristische Infrastruktur, ein Gasthaus, ein Restaurant, eine Fischzucht, eine Molkerei, einen Aufforstungsplan und ein Museum über die Geschichte der Repression gegen die Mayas und deren Widerstand. All diese Projekte sind gemeinschaftlich organisiert.Die Gemeinde ist sauber und farbenfroh. Man merkt, dass sich die Menschen hier ihr eigenes Zuhause geschaffen haben.

Der Gemeinschaftsraum, wo wir uns mit den Teilnehmenden des Heilpflanzenworkshops treffen, liegt neben dem Theater, welches gleichzeitig als Jugendtreff dient. Es ist ein offenes Oktogon, ein Lüftchen weht unter dem Palmblätterdach hindurch. Davor ist ein Mäuerchen mit den Namen einiger Gefallener in Formeines grossen Herzes gebaut. Nuevo Horizonte hat genug Land und die Gruppe plant, einen Gemeinschaftsgarten im Zentrum anzulegen, damit die älteren Mitglieder nicht so weit gehen müssen. In diesem Garten möchten sie Heilpflanzen und Gemüse anpflanzen. Der gesundheitliche Nutzen der Arbeit im Garten wird betont sowie der Wunsch, das Wissen an die neuen Generationen weiterzugeben. In allen Gemeinden wurde erwähnt, dass das Wissen über Heilpflanzen seit Jahrtausenden besteht, aber zum Teil bereits vergessen gegangen sei. Das Erbe der Vorfahr*innen zu bewahren, wiederzubeleben und an die zukünftigen Generationen weiterzugeben ist für alle ein grosses Anliegen.

Schritt für Schritt möchten die Kursteilnehmenden in Nuevo Horizonte der ganzen Gemeinde den Zugang zu Medikamenten aus Heilpflanzen ermöglichen. Auch sie sprechen von einem Austausch mit der Tierra Fría. In einer Rundreise wollen sie die Flora anderer Orte kennenlernen. Denn es ist etwas anderes, ein Pack getrocknete Pflanzen zu bekommen, als sie blühen zu sehen. Als nächstes möchten die Lernenden mehr über die Balsamherstellung erfahren. Ein erster Erfolg: Die weltbekannte Vick Vaporub muss hier niemand mehr kaufen. Sie stellen ihre eigene Pomade zur Linderung von Erkältungssymptomen her. In naher Zukunft soll in Nuevo Horizonte eine kleine Apotheke eröffnet werden, nach dem Vorbild der Gemeinde Primavera im Ixcán, welche die Zusammenarbeit mit Don Lorenzo bereits vor sieben Jahren begonnen hat und deren Apotheke bei gesundheitlichen Problemen inzwischen zu einer wichtigen Anlaufstelle für die ganze Gegend geworden ist.

¡Ni olvido, ni perdón!

Gesundheit und Prävention wird in Nuevo Horizonte allumfassend verstanden. Neben einer ausgewogenen Ernährung und den eingesetzten Heilpflanzen soll auch körperliche Bewegung den klassischen Zivilisationskrankheiten, wie dem mittlerweile weit verbreiteten Diabetes, vorbeugen und entgegenwirken. Der gemeinsame Abendspaziergang zur Lagune gehört deshalb zum Gemeindeprogramm. An der Lagune leben Brüllaffen und manchmal folgen sie den Spaziergänger*innen zurück ins Dorf. Letztens habe sich einer an der Stromleitung halten wollen und sei verbrannt. Auf diesen Unfall – oder wie manche im Dorf behaupten, den Selbstmord eines Affen mit Liebeskummer – blieb das Dorf zwei Tage ohne Elektrizität.

In diesen Tagen blieb auch das multimediale Museum über die Geschichte des bewaffneten Konfliktes dunkel, welches aus einer Initiative der Nachkommen ehemaliger Guerillakämpfer*innen entstand. Finanziert wurde es durch Spenden von ausländischen Stiftungen. Dokumente und Zeugnisse erzählen die Geschichte von der Zeit vor der Kolonialisierung bis zu den Grundrissen der ersten Häuser von Nuevo Horizonte. Dazwischen liegen Jahrhunderte von Gewalt und Unterdrückung. Zwischen all den schlimmen Bildern findet sich eines aus den 1960er Jahren, welches für mich die Perversion per se darstellt: Ein französischer Milizionär unterrichtet einen guatemaltekischen Militär in Folter. Er lehrt ihn die Techniken, die die Franzosen im Algerienkrieg angewendet und erprobt haben, um Menschen zu brechen.

Die traumatischen Erlebnisse können nicht ungeschehen gemacht werden. Um sie zu verarbeiten, braucht es Orte wie dieses Museum und die Gespräche zwischen den Generationen. Eine selbstorganisierte Gemeinschaft ist eine Voraussetzung für die Aufarbeitung, denn hier können die Eigeninitiativen wachsen und die Umsetzung von Ideen unabhängig von Institutionen geschehen. Die Heilpflanzen Guatemalas können die körperlichen und psychischen Verletzungen der Menschen nicht heilen, sie tragen aber beachtlichen zu deren Linderung bei. Durch die Workshops von Don Lorenzo bleibt das Wissen in Nuevo Horizonte über Generationen bestehen und das Sprechen über die Folgen eines Lebens in der Guerilla hält die Geschichte und den Kampf am Leben.