medico setzt einen Schwerpunkt auf die Stärkung von Frauenorganisationen und feministischen Initiativen im Gesundheitsbereich. Zudem wollen wir Brücken bauen zwischen den emanzipatorischen Kämpfen in den medico-Partnerländern und in der Schweiz. Eine bedeutende Rolle spielen dabei die ehrenamtlichen Projektverantwortlichen.

Ein Inter-Generationengespräch mit Anjuska Weil und Muriel Fischer. Das Gespräch führte Alice Froidevaux.

Mehr als 30 Jahre nach dem ersten grossen Frauenstreik in der Schweiz sind die Themen der Mobilisierung noch immer dieselben. Für uns ist deswegen klar: medico international schweiz streikt auch dieses Jahr am 14. Juni! Wir folgen damit dem Aufruf zum nationalen Feministischen Streik 2023 unter dem Motto «Lohn – Zeit – Respekt». Ein besonderes Anliegen ist uns das Verbinden verschiedener Kämpfe.

AF: Muriel, du bist 32, arbeitest für die feministische Redaktion von Radio LoRa und engagierst dich freiwillig bei medico. Wie wurdest du feministisch politisiert?

MF: Ich wuchs mit einer feministischen Mutter auf und lief von klein auf am 1. Mai und an den Frauendemos vom 8. März mit. Ich bin mir bewusst, dass ich von all den Rechten und Räumen profitiere, die vorherige Generationen erkämpft haben. Ich durfte so aufwachsen, dass ich mein Mädchensein und Frausein immer sehr bewusst gelebt habe – und ich habe es für mich auch immer fest mit «stark sein» verbunden. Im Zwischennutzungsprojekt «Parkplatz», ein selbstorganisierter Raum und Begegnungspunkt in Zürich, habe ich auch das Streikkollektiv und das Streikhaus kennengelernt.

AF: Anjuska, du bist 77 und schon sehr lange politisch aktiv. Du setzt dich für die Frauenrechte, für Frieden sowie für Migrant*innen und geflüchtete Menschen ein. Kannst du uns etwas über dein Engagement erzählen?

AW: In den 1970er Jahren, kurz nach der Einführung des Frauenstimmrechts, setzte ich mich als junge Frau im Komitee für eine Fristenlösung für die Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Und ich war aktiv für die erste Initiative eines Waffenausfuhrverbots. Für mich gehören die Frauenbewegung und die Friedensbewegung eng zusammen – damals wie heute. Ich war damals in der Ostschweiz zu Hause und war früh Mitglied der Frauengruppe St. Gallen (heute Politische Frauengruppe). Wir haben erreicht, dass es in St. Gallen seit 1980 ein Frauenhaus gibt. Als wir die Frauengruppe gründeten, sind viele Männer in Panik ausgebrochen. Mein Engagement für die Fristenlösung und das Waffenausfuhrverbot hat mich meine Anstellung an der Heilpädagogischen Schule gekostet, die damals von einem strammen CVP-Offizier geleitet wurde.

AF: Genau diese Themen sind heute wieder oder noch immer brandaktuell: Ein für viele unvorstellbarer Krieg in Europa ist Realität geworden und bringt die Schweiz und die Friedensbewegung in Bezug auf die Waffenfrage in ein Dilemma; weltweit greifen Konservative das Recht auf Abtreibung an; die Frauenhäuser sind überfüllt...

MF: Die Entwicklungen im Bereich der Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper sind weltweit und in der Schweiz wieder rückschrittlich. Das ist für mich ein zentrales Thema, wie auch der Zugang zu Gesundheit. Mit meinem Engagement bei medico wurde mir noch bewusster, wie politisch das Thema «Frauengesundheit» ist. Beim Besuch der Hebammenprojekte in Guatemala ist mir klargeworden, wie wichtig es ist, Räume zu schaffen, in denen Frauen sich Wissen aneignen und über Themen sprechen können, die sonst keinen Platz haben in der Gesellschaft. Im Hochland Guatemalas sind traditionelle Rollenbilder immer noch vorherrschend und die Religion hat einen grossen Einfluss. In Gesprächen über Beziehungsformen oder bei Fragen nach meinen Lebensplänen fühlte ich mich zum Teil fremd. Dennoch spürte ich eine grosse Offenheit bei den Frauen und wir erkannten, dass wir am Schluss eben doch mit sehr ähnlichen Problemen konfrontiert sind. Auch was du, Anjuska, über die Situation in Vietnam erzählt hast, wo Mütter Vollzeit ihre schwer beeinträchtigten Kinder pflegen, lässt sich mit unseren feministischen Kämpfen verbinden.

AW: Viele selber schon alte Mütter in Vietnam pflegen ihre schwer- behinderten, meist schon erwachsenen Kinder. Das ist schwerste Care-Arbeit. Die grösste Belastung der Mütter ist, wer kümmert sich um ihre Kinder, wenn sie einmal nicht mehr da sein werden? Mit dem medico-Projekt der Ausbildung freiwilliger Gesundheitspromotor*innen können wir in diesem Bereich eine Unterstützung bieten. Die schweren Beeinträchtigungen sind Jahrzehnte alte Kriegsfolgen, meist durch das dioxinhaltige Agent Orange verursacht... und da wären wir wieder bei den Waffen.

AF: Unbezahlte Care-Arbeit, Lohnungleichheit sowie Diskriminierung und sexuelle Belästigung sind seit der ersten grossen Mobilisierung 1991 zentrale Themen des Frauenstreiks. Dieses Jahr wird am 14. Juni unter dem Slogan «Lohn – Zeit – Respekt» zum Feministischen Streik aufgerufen. Dieselben Themen, ein neuer Name. Was sagt ihr dazu?

AW: Ich persönlich finde es wichtig, dass es Frauenstreik heisst, damit sich auch alle Frauen, die sich nicht als feministisch verstehen, angesprochen fühlen – gerade die Frauen aus dem Arbeiter*innenmilieu, wo der Begriff noch nicht gleich verankert ist. Sie sollen den Streik nicht als etwas sehen, das «von denen da» kommt, sondern erkennen, dass der Streik für alle Frauen ist.

AF: Auf der anderen Seite kann genau die Inklusion ein Argument dafür sein, den Streik ‹feministisch› zu nennen. Und spricht der Begriff ‹feministisch› nicht auch stärker die Systemebene an – also, dass es nicht alleine um mehr Rechte für die Frauen geht, sondern um einen Systemwandel weg von einem patriarchalen Kapitalismus?

MF: Ich finde den Einbezug der Arbeiter*innen sehr wichtig. Das passiert aber nicht nur über den Namen. 2020 habe ich eine interessante Erfahrung gemacht. Wegen Corona konnte kein grosser Streik stattfinden. Stattdessen wurden in Zürich verschiedene Kleinaktionen durchgeführt. Wir sind mit einem Wagen mit ‹Cumbia & Shots› rumgefahren. Zuerst dachte ich «Oje, das ist zu wenig politisch». Aber dann sind wir mit den Sexarbeiter*innen an der Langstrasse ins Gespräch gekommen, etwas was mir sonst an solchen Anlässen fehlt. Wir schaffen es oft kaum, die Brücke zu Menschen zu schlagen, die besonders von Diskriminierungen betroffenen sind. Mir liegt viel daran, dass bei der Genderdiskussion die Klassenfrage nicht verloren geht und dass Debatten und Aktionen nicht in der Bubble von Menschen bleiben, die sowieso schon aktivistisch sind. Deshalb war die grosse Mobilisierung von 2019 auch so wichtig (1991 war ich noch nicht dabei), und es wäre schön, dies 2023 wieder zu erreichen. Für mich hört sich «Feministischer Streik» richtig an. Die verbindende Problematik ist das patriarchale System, unter dem wir leiden. Ich verstehe aber auch die Argumentation, dass an diesem Tag wirklich die Frauen im Zentrum stehen sollen – dann müssen jedoch alle Menschen mitgemeint sein, die sich als Frauen identifizieren. Ich würde also am liebsten vom «queerfeministischen Frauenstreik» sprechen. Die Diskussion zeigt, dass sich etwas bewegt. Es soll unbedingt Platz für eine Debatte haben, solange diese nicht destruktiv und ausschliessend ist.

AF: Auch bei medico hat sich über die Jahre viel bewegt. Heute sind feministische Perspektiven nicht mehr wegzudenken. In der Arbeit in verschiedenen Kontexten und mit dem aktuellen Generationenwechsel bleibt dies eine spannende Herausforderung...

AW: Zu Beginn war medico, vormals CSS, stark von Männern geprägt. Heute sind die Frauen klar in der Mehrheit sowohl auf der Geschäftsstelle als auch bei den freiwillig Engagierten. Es hat sich viel verschoben. In Bezug auf die Mitglieder und die Spender*innen müssen wir bewusst mit diesem Wandel umgehen. Es gilt die Informations- und Gefühlslage der Leute zu beachten, neue Themen und neue Sprachformen können einiges auslösen. Es werden Privilegien angegriffen im Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter aber auch im Kampf um globale Gerechtigkeit in einer multipolaren Welt.

MF: Leider ist es für viele Menschen schon zu viel, sich ihrer Privilegien bewusst zu werden. Für mich gibt es Momente zum Erklären und zur Debatt und andere, wo eine klare unverhandelbare politische Haltung gefragt ist. Weltweit erleben feministische Bewegungen staatliche Repression. Auch gibt es die Tendenz, feministischen Aktivismus als extrem zu bezeichnen und Begriffe wie ‹Feminazi› zu gebrauchen. Solch repressive und abwertende Reaktionen zeigen für mich, dass diese Bewegung wirklich etwas verändern kann. Dass Leute solche Angst davor haben, zeigt doch, wie viel Kraft im Feminismus steckt.

AF: ... und in der internationalen (feministischen) Solidarität, die die Arbeit von medico motiviert! Wie werdet ihr dieses Jahr am 14. Juni dabei sein?

MF: Ich werde wieder mit Radio LoRa unterwegs sein. Im Moment läuft ein Crowdfunding, damit wir uns einen eigenen Live-Studiobus anschaffen und so die Stimmen von der Strasse noch besser direkt teilen können.

AW: Ich habe auch fest vor, dabei zu sein. Es hängt allerdings etwas von meiner Gesundheit ab. Wahrscheinlich werde ich mit der Women’s International League for Pace und Freedom (WILPF) unterwegs sein, eine der ältesten internationalen Frauen-Friedensorganisationen.

AF: Dann sehen wir uns am 14. Juni auf der Strasse!