Am 3. August 2024 jährte sich der Genozid an den Ezid*innen im Shengal-Gebiet durch den «Islamischen Staat» zum zehnten Mal. Mit der medico-Jahrespartnerschaft 2024/2025 leisten wir einen konkreten Beitrag zur Sicherung der medizinischen Grundversorgung in der Shengal-Region. Wir wollen an die schrecklichen Ereignisse sowie die Rettungsaktionen der kurdischen Kämpfer*innen von 2014 erinnern und über den anhaltenden Kampf der Ezid*innen für Selbstbestimmung informieren.

«Unsere regelmässigen Besuche ermöglichen es uns, unsere Patient*innen angemessen zu behandeln und das Vertrauen der ezidischen Bevölkerung zu gewinnen», sagt der Direktor der Nahri-Organisation. Die medico-Partnerorganisation mit Sitz in Erbil ist eine der wenigen NGOs, die noch im Shengal-Gebiet im Nordirak aktiv sind. Für die Ezid*innen in der kargen Bergregion ist ihre mobile Klinik oft der einzige Zugang zu medizinischer Versorgung. Von der Zentralregierung in Bagdad erhält die Region kaum Unterstützung. Es fehlen Gesundheitseinrichtungen und -personal und die Blockade der Region erschwert den Zugang zu Medikamenten und den Transport von Patient*innen.
 
Die Teams von Nahri betreuen Patient*innen mit chronischen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und chronischen Schmerzen. Pro Einsatz-Tag behandeln sie 35 bis 45 Personen, davon 80 Prozent Frauen und Kinder. Aufgrund extremer Klimas, der prekären Ernährungslage und mangelnden Wasserversorgung in der Region leiden viele Kinder und Schwangere an Infektionskrankheiten. Auch ältere Menschen und jene in abgelegenen Gebieten profitieren besonders von den mobilen Kliniken, die direkt in die Bergregion und Zeltlager fahren. Zudem vermittelt das lokale, ezidische Personal den Menschen ein Gefühl der Sicherheit.

Der andauernde Genozid

Die Ezidinnen sind eine ethnisch-religiöse Gemeinschaft mit über 4000-jähriger Geschichte. Ihre traditionellen Siedlungsgebiete liegen im Irak, Syrien, der Türkei und dem Iran. Die Nordirakische Provinz Ninive mit ihren Distrikten Shengal und Shekan gilt als ihr kulturelles und religiöses Zentrum. Einige Ezid*innen sehen sich als ethnische Kurd*innen, andere als eigenständige Ethnie.
 
Am 3. August 2014 überfiel der «Islamische Staat» (IS) die Shengal-Region. Zehntausende Ezid*innen wurden brutal ermordet, verschleppt oder zur Flucht gezwungen. Frauen und Mädchen wurden entführt und versklavt. Die Bilder der Menschen, die tagelang bei bis zu 40 Grad Hitze auf dem belagerten Berg Shengal (arabisch Sindschar) ausharrten, gingen um die Welt. Helikopter westlicher Regierungen warfen Trinkwasser und Malzeiten ab, Staatschefs versprachen Hilfe. Die UN klassifizierte die Verbrechen des IS als ersten Genozid des 21. Jahrhunderts.
Im kollektiven Bewusstsein der Ezid*innen ist der Völkermord als «Ferman 74» bekannt – ein Begriff, der auf die 74 Pogrome gegen ihre Gemeinschaft seit dem 15. Jahrhundert verweist.

Die Überlebenden

Mit Unterstützung der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava und der Kämpferinnen der kurdischen Arbeiter*innenbartei gelang Zehntausenden die Flucht vor dem IS-Terror über einen sicheren Korridor nach Nordsyrien. Die Mehrheit der Ezid*innen aus der Shengal-Region lebt noch heute in Flüchtlingslagern im Nordirak und in Rojava oder als Geflüchtete in anderen Teilen der Welt.
 
Seit der Befreiung der Region vom IS 2017 durch die kurdischen Kämpfer*innen und ihre Alliierten sind mehr als 100 000 Ezid*innen ins Shengal-Gebiet zurückgekehrt. Sie leben noch heute unter prekären Bedingungen, in Zeltlagern und provisorischen Unterkünften. Das Vertrauen in externe Regierungen und Institutionen haben sie verloren. Nach dem Vorbild von Rojava streben sie eine autonome, paritätisch besetzte Selbstverwaltung mit eigenen Verteidigungskräften an. Die Begegnungen mit den kurdischen Kämpferinnen weckten die Widerstandskraft der ezidischen Frauen. Unter dem Einfluss der Frauenbewegung aus Rojava begannen sie sich zu organisieren und die neu entstehenden Gesellschaftsstrukturen im Shengal entscheidend mitzugestalten.

Ein Beitrag zum Wiederaufbau

Für die Zurückgekehrten gestaltet sich der Wiederaufbau schwierig: Das Gebiet ist schwer zugänglich undverschiedene politische und militärische Akteur*innen kämpfen um die Kontrolle. Immer wieder wird die die Shengal-Region gezielt von türkischen und irakischen Streitkräften angegriffen, wodurch wichtige Infrastruktur beschädigt und bedeutende Persönlichkeiten für den sozialen Wandel getötet werden.
 
«Die Ezid*innen fühlen sich von der irakischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Aufgrund mangelnder Finanzierungsmöglichkeiten und fehlendem Interesse sind kaum noch internationale Organisationen vor Ort», so der Direktor der Nahri-Organisation. Die mobile Klinik ist für die Bevölkerung ein Lichtblick – ein wichtiges Zeichen, dass sie nicht vergessen sind.

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