Am 3. August 2014 fiel der «Islamische Staat» in das Shengal-Gebiet im Nordirak ein. Tausende Ezid*innen wurden brutal ermordet, verschleppt oder zur Flucht gezwungen. Frauen und Mädchen wurden entführt und versklavt. Religiöse und kulturelle Stätten wurden zerstört. Zehn Jahre nach dem IS-Angriff kämpfen die Überlebenden fernab der Weltöffentlichkeit gegen die Traumata und für ein selbstbestimmtes Leben – ein Überblick.

Friedhof auf dem Berg Shengal. Mit Tüchern werden Wünsche für die getöteten Kinder in die Bäume geknüpft.

Wer sind die Ezid*innen?
Die Ezid*innen (deutsch meist Jesid*innen) sind eine ethnisch-religiöse Gemeinschaft, deren Wurzeln dem eigenen Verständnis nach mehr als 4000 Jahre zurückreichen. Ihre traditionellen Siedlungsgebiete sind auf den Irak, Syrien, die Türkei und den Iran aufgeteilt. Die Nordirakische Provinz Ninive mit ihren Distrikten Shengal und Shekan gilt als das kulturelle und religiöse Zentrum der Ezid*innen. Die Ezdi*innen bezeichnen sich teilweise als ethnische Kurd*innen, teilweise als eigenständige Ethnie.
 
Die Region Shengal
Shengal (arab. Sindschar) ist ein trockenes Gebiet mit verschiedenen Dörfern im Norden des Irak. Das historische Siedlungsgebiet der Ezid*innen ist im Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien und der Türkei strategisch gelegen und zählt zu den zwischen der irakischen Zentralregierung und der Kurdischen Regionalregierung umstrittenen Gebiete. Verschiedene nationale und regionale, politische und militärische Akteur*innen kämpfen um die lokale Vorherrschaft. Heute ist das Gebiet kaum zu erreichen. Die Grenze zur nordsyrischen Autonomieregion Rojava ist abgeriegelt und von der nordirakischen Stadt Mossul bis nach Shengal, eine Strecke von circa 130 Kilometern, müssen rund 20 Checkpoints passiert werden.

«Ferman 74»  – Eine Geschichte der Verfolgung und Pogrome
Während ihrer Offensive und in den darauffolgenden Tagen und Wochen töteten IS-Kämpfer*innen schätzungsweise bis zu 10 000 Ezid*innen. Rund 7000 Frauen und Mädchen wurden verschleppt und als Sklavinnen ausgebeutet. Minderjährige Jungen wurden entführt, um sie als Kindersoldaten oder Selbstmordattentäter auszubilden. Alle religiösen und kulturellen Stätten der ezidischen Gemeinschaft in der Region wurden zerstört. Die Vereinten Nationen klassifizierten diese Verbrechen als den ersten Genozid des 21. Jahrhunderts. Im kollektiven Bewusstsein der Ezid*innen ist der Völkermord, der 2014 begann und bis heute nachwirkt, als «Ferman 74» bekannt. Der Begriff «Ferman» stammt aus dem Osmanischen Reich und bedeutet Erlass oder Befehl. Die Zahl 74 steht für die Anzahl der Pogrome und Massenmorde, die seit dem 15. Jahrhundert an den Ezid*innen verübt wurden.

Flucht in die Berge – «Rettungs-Korridor»
In der Mitte der Shengal-Region erhebt sich ein braches Berggebiet. Dort hinauf flohen im August 2014 mehrere Zehntausend Ezid*innen. Die Bilder der Menschen, die tagelang bei bis zu 40 Grad auf dem belagerten Berg ausharrten, gingen um die Welt. Helikopter von westlichen Regierungen warfen Trinkwasser und Malzeiten ab, Staatschefs versprachen Hilfe. Die Ezid*innen fühlten sich von den Peschmerga verraten, den Militärtruppen der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, die versprochen hatte, sie zu beschützen, und sie jetzt dem IS auslieferten. Zu Hilfe kamen ihnen die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava und Kämpfer*innen der Arbeiterpartei Kurdistans. Von Syrien aus erkämpften sie einen sicheren Korridor bis in den Shengal, über den in den ersten Tagen bereits über 50’000 Ezid*innen nach Rojava fliehen konnten. So wurde ein noch grösseres Massaker verhindert.

> Hörempfehlung: Podcast «#17: Völkermord an den Êzîd*innen – Droht nach zehn Jahren ein Wiedererstarken des IS? - dis:arm»

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Die Überlebenden

Von den 600 000 im Irak registrierten Ezid*innen sollen bis zu 10 000 getötet worden sein. Zehntausenden gelang die Flucht. Rund 7000 Frauen und Kinder wurden vom IS verschleppt und versklavt, über 4000 wurden wiedergefunden, ca. 3000 werden bis heute vermisst. Seit der Befreiung vom IS 2017 durch die kurdischen Kämpfer*innen und ihre Alliierten sind mehr als 100 000 Ezid*innen nach Shengal zurückgekehrt. Die Mehrheit der Ezid*innen aus Shengal lebt jedoch immer noch in Lagern für intern Vertriebene im Nordirak oder in Flüchtlingslagern in Nordsyrien (Rojava) unter prekären Bedingungen oder als Geflüchtete in anderen Teilen der Welt. Viele Überlebende können sich nicht vorstellen, an den Ort des Grauens zurückzukehren. Für die Zurückgekehrten ist der Wiederaufbau schwierig: Die Region ist isoliert und die Sicherheitslage bleibt instabil. Das Gebiet ist schwer zugänglich und verschiedene politische und militärische Akteur*innen kämpfen um die Kontrolle. Immer wieder wird die die Shengal-Region gezielt von türkischen und irakischen Streitkräften angegriffen, wodurch wichtige Infrastruktur beschädigt und bedeutende Persönlichkeiten für den sozialen Wandel getötet werden. Besonders in der Bergregion, wo viele aus Angst weiterhin ausharren, gibt es kaum Grundversorgung.

Noch heute leben viele Ezid*innen im Shengal in Zeltlagern und provisorischen Unterkünften.

Selbstverwaltung als einzige Lösung
Die Ezid*innen fühlen sich von der irakischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Internationale Organisationen sind kaum noch vor Ort. Die Ezid*innen wollen nie wieder schutzlos sein und sehen selbstbestimmte Strukturen als einzige Lösung. Nach dem Vorbild von Rojava streben sie eine autonome, paritätisch besetzte Selbstverwaltung mit eigenen Verteidigungskräften an. 

Femizid und der Widerstand ezidischer Frauen
Der Genozid an der ezidischen Bevölkerung ist auch ein gezielter Femizid. Während des «Ferman 74» wurden ezidische Frauen von IS-Kämpfern massakriert, systematisch vergewaltigt, verschleppt und auf Sklavenmärkten verkauft. Doch die Frauen leisten an vorderster Front Widerstand. Die Begegnungen mit den kurdischen Kämpferinnen weckten ihre Widerstandskraft und förderten emanzipatorische Prozesse in einer konservativen Gesellschaft. Unter dem Einfluss der Frauenbewegung aus Rojava begannen die ezidischen Frauen sich zu organisieren und die neu entstehenden Gesellschaftsstrukturen im Shengal entscheidend mitzugestalten.

Forderungen der ezidischen Frauenbefreiungsbewegung TAJÊ
Die ezidische Frauenbefreiungsbewegung TAJÊ hat eine internationale Kampagne gegen Femizid und für die Selbstverteidigung von Frauen weltweit ausgerufen.

  • Femizid muss als Kriegsverbrechen anerkannt und alle Täter und Unterstützer müssen verurteilt werden.
  • Das Recht von Frauen auf organisierte Selbstverteidigung muss gesellschaftlich und institutionell Akzeptanz finden.
  • Das vom IS vor zehn Jahren in Shengal begangene Massaker muss auf allen Ebenen offiziell als Völkermord eingestuft und entsprechend verfolgt werden.
  • Die nach 2014 in Shengal etablierten Selbstverwaltung und Sicherheitskräfte müssen als legitime Vertretung und Verteidigung der Gemeinschaft anerkannt werden.
  • Die Einstellung aller Angriffe auf die ezidische Gesellschaft müssen verurteilt und eingestellt werden, vor allem die Luftangriffe durch den türkischen Staat.

Die mobile Klinik der Nahri-Organisation: Ein konkreter Beitrag zum Wiederaufbau
Ein Lichtblick in der kargen Bergwelt des Shengals sind die mobilen Kliniken der medico-Partnerorganisation Nahri. Sie behandeln Patient*innen mit Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und chronischen Schmerzen. Die mobilen Kliniken mit ihrem lokalen, ezidischen Personal bieten den Menschen eine kleine Sicherheit, dass sie nicht vergessen sind.

Pro Einsatz-Tag behandeln die Teams der Nahri-Organisation 35 bis 45 Personen, davon 80 Prozent Frauen und Kinder.