Seit 1994 begleitet die medico-Partnerorganisation SADEC in Chiapas zapatistische Basisgesundheitsinitiativen. Unterstützt wird sie dabei von jungen Zahnärzt*innen und Ärzt*-innen der Universidad Autónoma Metropolitana (UAM), die ihren Sozialdienst in Kliniken der selbstverwalteten zapatistischen Gemeinden absolvieren und im Gegenzug eine neue Welt kennenlernen.
Alice Froidevaux
Die zapatistischen Gemeinden im Süden Mexikos sind zu einem Erfolgsbeispiel für gelebte Autonomie als lokale Basis für globale Veränderung geworden. Zahlreiche Mobilisierungs- und Vernetzungskampagnen innerhalb Mexikos und international machen die Bedeutung der Zapatistas für die anti-neoliberale und postkoloniale Bewegung bis heute deutlich. Zuletzt tourte eine zapatistische Delegation im Rahmen der historischen Gira por la Vida durch Europa und die Schweiz. 500 Jahre nachdem die europäischen Mächte den Anfang setzten für eine Geschichte der Ausbeutung, des Rassismus und des Patriarchats, kehren die Zapatistas die Kolonisierung um: Sie sind gekommen, um den revolutionären Widerstand in Europa zu stärken!
«Die Basisgesundheitsversorgung ist ein wichtiges Element in den selbstverwalteten zapatistischen Gemeinden,» erklärt uns ein Mitglied der Delegation im Gespräch. «Ohne eigenes Basisgesundheitssystem könnten wir nicht unabhängig funktionieren.» So gibt es in jeder Gemeinde eine Klinik oder einen Gesundheitsposten. Das Gesundheitswesen der Zapatistas basiert auf indigenem Wissen und baut auf drei Säulen auf: Den Parteras, traditionelle Hebammen; den Hueseros, spezialisiert auf das Richten von Knochen; und den Hierberos, Expert*innen in Pflanzenheilkunde. Die Fähigkeiten dieser Personen werden als Gabe angesehen, die in der Familie über Generationen weiter-gegeben wird. Verantwortlich für die Koordination der Gesundheitsarbeit sind Gesundheitspromotor*innen. Sie werden von der regionalen Junta de Buen Gobierno (Rat der guten Regierung) eingesetzt und verpflichten sich dazu, sich ständig weiterzubilden.
Während die zapatistischen Gemeinden eine starke Primärgesundheitsversorgung bereitstellen, sind sie für die sekundäre und tertiäre Versorgung – also für Behandlungen durch Fachärzt*-innen und in Spezialkliniken – auf externe Unterstützung angewiesen. Die Sprecherin der Delegation erklärt: «Wir kennen die Grenzen unseres Gesundheitswesens und fördern bewusst eine Synthese von traditionellen und westlichen Ansätzen. Die Organisation SADEC vermittelt für uns, wenn wir jemanden in ein Krankenhaus verlegen müssen oder aktuell auch für den Zugang zu Covid-19-Impfstoff.»
Weitere Mithilfe erhalten die Zapatistas durch die sozialdienstleistenden Ärzt*innen im Programm von SADEC. Eine von ihnen ist Iveth Morales. Die junge Zahnärztin, die in der Hauptstadt geboren und aufgewachsen ist, erzählt begeistert von ihren Erfahrungen: «Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Dr. Joel Herredia von SADEC die Projekte in den zapatistischen Gemeinden an der Uni vorgestellt hat. Ich war sofort fasziniert und wusste, ich muss dahin.»
Auf die Frage, was sie zu diesem Zeitpunkt über die zapatistische Bewegung und das Leben in den autonomen Gemeinden gewusst hätte, antwortet Iveth lachend: «Das Einzige, was ich wusste, war, was die Regierung uns glauben lässt: Dass die Zapatistas bewaffnete Rebellen*innen sind, die sich an keine Regeln halten und viel Zerstörung bringen. Natürlich sagt dir niemand, dass es sich um Menschen handelt, die in grosser Armut leben – um Menschen, die für ihre Rechte kämpfen.»
Iveth hat ihren Einsatz in der Gemeinde La Garrucha geleistet. Neben der Sprachbarriere – in der Region wird die indigene Sprache Tzeltal gesprochen – sieht Iveth rückblickend die grösste Herausforderung in den kulturellen Unterschieden. Der Fokus auf dem Kollektiv war für die junge Frau neu: «Ich muss zugeben, es war für mich eine schmerzliche Erfahrung, damit konfrontiert zu werden, wie individualistisch wir Menschen aus den Städten denken. Bei den Zapatistas gehört alles allen. Das Wissen, das Essen... alles wird geteilt, es wird immer im Team gearbeitet. Wichtige Entscheide müssen zuerst vom Rat der guten Regierung genehmigt werden. Als wir die Wand der Klinik bemalen wollten, brauchten wir eine Erlaubnis. Zuerst habe ich mich genervt über dieses ‹autoritäre System› – aber dann habe ich verstanden, dass es um den Rückhalt der Gemeinde und um die gemeinsame Umsetzung geht.»
Auch im medizinischen Bereich hatte sie sehr viel dazugelernt, erzählt die Zahnärztin weiter. «In unserer Ausbildung lernen wir nichts über alternative Behandlungsmethoden. Es gibt für alles die richtige Pille und fertig. In den zapatistischen Gemeinden habe ich eng mit dem Hierbero zusammengearbeitet. Ich habe gelernt traditionelle Bräuche zu respektieren und weiss heute, was für eine wichtige Rolle Parteras, Hueseros, Hierberos und Gesundheitspromotor*innen in der Gesundheitsversorgung und somit für die Gesellschaft übernehmen. Ihre Erfahrungen sind oftmals mehr wert, als eine akademische Ausbildung.»
«Ich bin mit der naiven Vorstellung nach La Garrucha gekommen, dass ich den Menschen helfen und ihnen viel bei-bringen werde,» lacht Iveth. «Mit der Zeit habe ich gemerkt: Ich habe viel mehr von ihnen gelernt. Natürlich war es ein Austausch zwischen beiden Seiten. Aber für mich war es wirklich eine augenöffnende Erfahrung. Ich finde, alle sollten dieses ‹andere Mexiko› kennen. Leider entscheiden sich nur sehr wenige Studienabgänger*innen für einen Sozialdienst auf dem Land. Ich bin sehr dankbar, dass ich durch SADEC eine andere Realität und ein anderes Verständnis von Gesundheit kennenlernen durfte!»