«Wir bestehen trotz Angriffen und Kriegsdrohungen auf das freie Leben! Wir teilen Wissen, heilen Krankheiten, stärken die Selbstorganisierung der Frauen und der Gesellschaft: So verstehen wir unsern Teil an der gesellschaftlichen Selbstverteidigung und der Frauenrevolution.»

Ein Gespräch von Maja Hess mit Ronahi1 vom Gesundheitszentrum Şifajin im Frauendorf Jinwar und Nujin1 vom Andrea Wolf Institut, der Akademie für Jineoloji2.

Austausch an der wöchentlichen Versammlung des Dorfrates von Jinwar

Welche Rolle spielt eine eigene Gesundheitsversorgung für die Revolution in Rojava?

Ohne autonome Gesundheitsversorgung kann es keine Revolution geben. Abdulla Öcalan schreibt in seiner Soziologie der Freiheit «Abhängigkeit im Bereich der Gesundheit ist ein Zeichen für allgemeine Abhängigkeit. Nur eine Gesellschaft, die in der Lage ist, die physischen und psychischen Probleme ihrer Mitglieder autonom anzugehen, kann ihre Freiheit erlangen.» Unser langfristiges Ziel ist es, eine ausreichende Gesundheitsversorgung für alle zur Verfügung zu stellen. Wir möchten ein alternatives Gesundheitssystem aufbauen, das einen integrierten Teil der gesellschaftlichen Selbstorganisierung darstellt und das Gleichgewicht zwischen Menschen und Natur wieder herstellt.

Vor welchen Herausforderungen steht das Gesundheitskomitee in Rojava?

Der Aufbau einer autonomen Gesundheitsversorgung braucht enorm viel Wissen, Ressourcen und Zeit. Die Kriegssituation und das Embargo in Rojava, der Mangel an Infrastruktur, Technik und Medikamenten sowie das Fehlen von Mediziner*innen erschweren die Arbeit ungemein. Dennoch konnten wir in den letzten Jahren kommunale Gesundheitszentren aufbauen und die Ausbildung von Mediziner*innen durch die Gesundheitsakademie und die medizinische Fakultät der Rojava Universität fördern. Ausserdem ist das Gesundheitsverständnis vieler Menschen geprägt von einer männlich-patriarchalen Perspektive. Viele Ärzte verschreiben für alle möglichen Beschwerden zahlreiche Medikamente, ohne eine differenzierte Diagnose zu machen. Das führt zur mehr oder weniger bewussten Einstellung: Ein guter Arzt ist, wer viele Medikamente gibt. Und das ist fatal! Mit Bildungsarbeit möchten wir das Gesundheits- und Krankheitsverständnis verändern und wir ermutigen besonders Frauen, Ärztinnen zu werden und alternative Heilmethoden voranzubringen.

Jinwar ist ein Dorf von Frauen für Frauen. Welche Rolle spielt dieser Ort?

Jinwar ist Teil der Frauenrevolution und entstand auf der Grundlage all der Erfahrungen, die in den Frauenbewegungen in Rojava und im Mittleren Osten gemacht wurden. Frauen sind in Rojava heute in allen Teilen des Lebens und der Gesellschaft präsent und spielen eine zentrale Rolle. Patriarchale Denkweisen sind natürlich noch immer verbreitet. Frauen erleben weiter Gewalt in der Familie, sind allein für sämtliche Hausarbeiten zuständig und nicht zuletzt sind der Verlust von Familienangehörigen im Krieg sowie das Leben unter ständiger Kriegsbedrohung – insbesondere mit Kindern – für die Frauen extrem belastend.

Bildung für alle und die autonome Organisierung von Frauen sind wichtige Gegenmittel. Autonome Frauenräume, in denen Frauen sich austauschen und Alternativen entwickeln können, sind wie frisches Wasser in der Hitze und Trockenheit jahrhundertelanger gesellschafticher Unterdrückung und sie können die ganze Gesellschaft beleben. Jinwar ist eine Art Labor des gemeinsamen Lebens von Frauen verschiedener Ethnien. Hier leben Frauen und Kinder gemeinschaftlich und organisieren ihr Leben selbst... mit einem Dorfrat, kommunaler Wirtschaft und Landwirtschaft, Bildungsinstitutionen, einem Gesundheitszentrum, einer Bäckerei, etc. Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten und Widersprüche, die wir aber für Reflexion und Veränderung nutzen. Denn die Freiheit der Frauen ist auch mit der Freiheit von Männern und der ganzen Gesellschaft verbunden. Jinwar ist keine Insel – wir sind verbunden mit den anderen Bereichen der Frauenrevolution und der Selbstverwaltung.

Wie versteht ihr Gesundheit in Jinwar?

Eine unserer wichtigen Grundlagen ist die Jineoloji, die ‹Wissenschaft der Frauen›. Auch die Gesundheit betrachten wir aus dieser Perspektive. Gesundheitsversorgung hat eine lange Tradition in den Händen von Frauen. Frauen waren Heilerinnen, hatten ein enormes Wissen über den Körper, die Umwelt und die Pflanzen. Die Entwicklung der modernen Medizin ist grundlegend für die Gesellschaft. Sie geschah aber leider im Rahmen eines positivistischen und patriarchalen Paradigmas. Körper und Seele, Individuum, Gesellschaft und Natur werden voneinander getrennt und die Gesundheitsversorgung wird zu einer Frage von Expertentum und unternehmerischem Profit. Viele Gesundheitsprobleme sind ‹Systemkrankheiten› und haben ihre Wurzeln in kapitalistischen Lebensformen, Gewalt, Unterdrückung und Kolonialisierung. Dazu kommt der Einfluss von Religion und Patriarchat auf die Frauen, der sich unter anderem in Scham und Distanz zum eigenen Körper spiegelt. Auch innerhalb der traditionellen Heilmethoden kennen wir Praktiken, die stark mit einem repressiven religiösen Verständnis verbunden sind und die wir deshalb nicht unterstützen. Der Gedanke der Frauenbefreiung hilft uns, zu unterscheiden.
Im Gesundheitszentrum Şifajin versuchen wir Pflanzenmedizin und alternative Heilmethoden mit moderner Medizin zu vereinen und verbunden mit der Revolution zu begreifen. ‹Gesundheit› ist nicht einfach eine Dienstleistung, sie ist zugleich eine Philosophie, ein Teil des guten Lebens, wie Blut, das durch die Adern einer freien Gesellschaft pulsiert.

Das Gesundheitszentrum Sifajin im Frauendorf Jinwar

Wie funktioniert das Gesundheitszentrum Şifajin konkret?

Das Gesundheitszentrum ist für Jinwar und die umliegenden Dörfer täglich geöffnet. In Notfällen sind wir immer erreichbar. Der Fokus liegt auf den Frauen, seit Kurzem werden auch Männer behandelt. Sifajin bietet moderne Gesundheitsversorgung, eine Hebamme ist präsent und wir stellen Pflanzenmedizin her. Die Behandlungen von Bewohner*innen der Region schafft auch Anerkennung für Jinwar und die Organisierung der Frauen in der Region. Im Umgang mit den Menschen, besonders den Frauen, möchten wir ins Gespräch kommen, Vertrauen aufbauen, Schmerz und Hoffnung teilen. Viele ihrer Krankheiten haben den Ursprung in von Gewalt und Druck geprägten Familienbeziehungen. Der Austausch unter Frauen, ‹Freundinnenschaft› und Solidarität können schon ein wichtiger Teil der Heilung sein. Wir organisieren Bildung für die Frauen in Basisgesundheitsversorgung und Pflanzenmedizin und vermitteln Wissen zu unseren Körpern und zur Jineoloji. Denn je mehr wir wissen und verstehen, desto freier sind wir! Wir weben ein Netz des Widerstandes gegen die kapitalistische Moderne und deren Gesundheitsverständis, um ein Teil der Alternative zu sein.

Wie geht ihr mit der aktuellen politischen und militärischen Lage um?

In diesen Tagen droht eine erneute Invasion gegen Nord-Ost Syrien durch die Türkei und ihre Alliierten. Deshalb organisieren wir in den Gemeinden Erste-Hilfe-Kurse. Das verbessert die Autonomie und ist eine wichtige Form der Selbstverteidigung. Wir erleben nebst Drohnenangriffen und Bombardierungen eine diplomatische, ökonomische und psychologische Kriegsführung und den Versuch, die Region zu isolieren. Dies erzeugt eine Situation permanenter Verunsicherung und Angst, welche zu Fluchtbewegungen führen. Wir müssen psychisch wie praktisch auf Angriffe vorbereitet sein und dennoch die alltäglichen Aufgaben bewältigen und die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben. Nur so verteidigen wir die Revolution der Frauen und der gesamten Gesellschaft. Dafür benötigen wir in der kommenden Zeit eine hohe Wachsamkeit und gegenseitige Unterstützung – auch über die Grenzen von Rojava hinaus!


1 Namen von der Redaktion geändert.
2 Die Jineoloji ist die ‹Wissenschaft der Frauen›. Zentral ist der gelebte Widerstand, nicht nur gegen militärische Angriffe auf die Region, sondern auch gegen patriarchale Strukturen in der Gesellschaft: «Die Befreiung des Lebens ist unmöglich ohne eine radikale Frauenrevolution.»