Inmitten des Krieges in Nordostsyrien treibt die Frauenbewegung den gesellschaftlichen Wandel weiter voran. Während die Selbstverteidigungskräfte Rojavas gegen Angriffe islamistischer Milizen und der türkischen Armee kämpfen, werden in den selbstverwalteten Gebieten feministische Projekte umgesetzt. Eines davon ist die neue mobile Klinik von Heyva Sor A Kurd für Frauen, homosexuelle und trans Personen.
Anouk Robinigg
Das Team der neuen Gesundheitseinheit von Frauen für Frauen, Mädchen, homosexuelle und trans Personen vom Kurdischen Roten Halbmond in Rojava.
Dieser Artikel erschien in der 8.-März-Ausgabe der sozialistischen Zeitung vorwärts
Anfang Dezember 2024 fiel überraschend das Assad-Regime nach über 50 Jahren brutaler Clanherrschaft. Die Machtübernahme der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham in Damaskus zwingt die Selbstverwaltung in Rojava zu einer neuen Positionierung. Zwischen Verhandlungen mit den neuen islamistischen Machthabern und dem Widerstand gegen türkische Angriffe betreibt die kurdische Bewegung komplexe diplomatische Politik und versucht, ihr Recht auf Selbstverteidigung und ihr fortschrittliches, demokratisches Gesellschaftsmodell zu verteidigen. Die Situation ist hoffnungsvoll und bedrohlich gleichzeitig.
Heyva Sor A Kurd, der kurdische Rote Halbmond, ist eine medizinische Hilfsorganisation der Zivilgesellschaft in Rojava. Sie wurde 2012 gegründet, wegen der dringenden Notwendigkeit, Verletzte im Krieg zu versorgen. Lebensrettende Massnahmen gehören bis heute zu ihren zentralen Aufgaben. Die Organisation ist an den Brennpunkten vor Ort im Einsatz, wie aktuell am Tisrîn-Staudamm. Der Tisrîn-Damm am Euphrat, im Westen Rojavas, wird derzeit von der islamistischen SNA und der türkischen Armee angegriffen. Unter normalen Bedingungen könnte er die gesamte Region Nord- und Ostsyrien mit Strom versorgen, doch Wasserblockaden und Angriffe der Türkei gefährden seine Funktion. Der Damm betreibt Pumpstationen für Trinkwasser und spielt eine wichtige Rolle für die Landwirtschaft. Bricht er, droht eine weitere ökologische und humanitäre Katastrophe in der Region. Gleichzeitig ist der Tisrîn-Damm ein strategisch wichtiger Übergang über den Euphrat-Fluss. Das erklärte Ziel der Islamisten ist Kobane, eine wichtige Stadt und rote Linie für die Kurd*innen.
Seit Dezember wird angegriffen, und seitdem wehren die Selbstverteidigungskräfte Rojavas, die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) die Angriffe ab. Auch die Zivilbevölkerung beteiligt sich an der Verteidigung. Sie wissen, welche Gefahren sowohl die islamistische Besatzung als auch eine weitere Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen birgt. Seit Wochen sind hunderte junge und auch viele alte Menschen aus Nord- und Ostsyrien zum Tisrîn-Staudamm gefahren, um gegen die Bombardierung zu protestieren und um ihn unter Einsatz ihres Lebens zu schützen. Die Angriffe treffen auch sie direkt. Bis Anfang Februar wurden bereits 24 Menschen getötet und mehr als 221 zum Teil schwer verletzt. Heyva Sor A Kurd versorgt die Verletzten, und wird damit auch selbst zur Zielscheibe von Drohnen-Angriffen durch die türkische Armee. Seit dem Beginn der Angriffe im Dezember wurden bereits fünf Ambulanzen zerstört. Die medizinische Versorgung der Verletzten ist erheblich erschwert.
Neben der medizinischen Versorgung von Verletzten arbeitet Heyva Sor zusammen mit den Ge-sundheitskomitees der Selbstverwaltung daran, ein funktionierendes Gesundheitssystem für Rojava aufzu-bauen und aufrechtzuerhalten. Eine zentrale Aufgabe der Organisation ist die Betreuung der zahlreichen Geflüchteten. Bereits seit Beginn des Syrienkrieges 2011 sind rund 700000 Menschen nach Rojava geflüchtet. Das multi-ethnische und multi-religiöse Projekt bietet ihnen Schutz. Seit Dezember sind weitere 100000 Menschen, vor allem aus Shehba und Aleppo, vor den Angriffen jihadistischer Milizen geflüchtet. Das Überleben der Menschen vor Ort zu sichern, ist ein wichtiger Akt des Widerstandes gegen die Angriffe der türkischen Armee und islamistischer Gruppen. Das Ziel des türkischen Staates ist es, Terror zu erzeugen, durch Zerstörung der Lebensgrundlagen Menschen zur Migration zu zwingen und so das Gebiet zu entvölkern. Wo kein Leben mehr möglich ist, gib es auch keine Revolution.
Frauenbefreiung steht an erster Stelle im revolutionären Projekt Rojava. Dies ist ein langer und andauernder Prozess, der auf allen Ebenen vorangetrieben wird. Dazu gehören die berühmten Frauenselbstverteidigungskräfte YPJ, Frauen in lokalen Sicherheitsstrukturen – Mütter und Grossmütter, die in ihren Vierteln patrouillieren, Frauenvertretungen in allen politischen Ebenen, die Doppelspitze von politischen Ämtern. Die Frauenbewegung treibt den gesellschaftlichen Wandel auch mit sozialen und ökonomischen Projekten voran, fördert Arbeitsplätze für Frauen und Kooperativen.
Auch Organisationen wie Heyva Sor setzen die Prinzipien der Selbstverwaltung in ihren Strukturen konsequent um. Neben der Geschlechterparität spielt dabei die Anerkennung von ethnischer und religiöser Vielfalt eine zentrale Rolle. Im Gesundheitsbereich bedeutet das, wenn immer möglich, auf lokales Personal zu setzen. Zusätzlich hat Heyva Sor ein System von Community Health Workers aufgebaut. Diese Gesundheitsar-beiter*innen stammen direkt aus den jeweiligen Gemein-schaften – aus Flüchtlingscamps oder Dörfern – und absolvieren eine Ausbildung in medizinischer Grundversorgung. Sie spielen eine entscheidende Rolle in der Gesundheitsprävention, indem sie ihre Communites über Schutzmassnahmen und Gesundheitsrisiken aufklären. In einer Region, in der sie oft nur begrenzte Möglichkeiten haben, ein eigenes Einkommen zu erzielen, eröffnet dieses Modell insbesondere Frauen und Mädchen Perspektiven.
Seit Anfang des Jahres ist das neueste Projekt von Hevya Sor im Einsatz: Die mobile Women’s Health Unit. Diese kleine Klinik auf Rädern versorgt die ländlichen Gebiete rund um Qamishlo und dient als wichtige Anlaufstelle für medizinische Betreuung. Besonders an dieser Einheit ist, dass sie zum ersten Mal vollständig von Frauen konzipiert und betrieben wird – von der Planung bis zur Umsetzung. Das gesamte Personal besteht aus Frauen, inklusive der Fahrerinnen. Neu ist auch die Zielgruppe: Das Angebot richtet sich gezielt an Frauen, Mädchen, trans Personen aller Geschlechter unabhängig vom Transitionsstand sowie an homosexuelle Menschen.
Initiiert wurde die Women’s Health Unit vom Frauenkomitee von Heyva Sor, das aus erster Hand die zahlreichen Herausforderungen kennt, mit denen Frauen im Alltag konfrontiert sind. Neben grundlegenden Problemen wie dem Mangel an Gesundheitsversorgung, Nahrung, Geld, Gas und Benzin, sind Frauen und Mädchen weiterhin häufig von häuslicher Gewalt, Belästigung und sexueller Ausbeutung betroffen. Ihre Bewegungsfreiheit ist oft eingeschränkt und so bleibt der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung unzureichend. Speziell auf Frauengesundheit ausgerichtete Programme sind kaum vorhanden. Zudem fehlt es an Möglichkeiten für Mädchen und Frauen, ihre eigene Sexualität kennenzulernen und zu entwickeln.
Frauen in Rojava haben in den meisten Fällen keine Möglichkeit zu entscheiden, ob sie schwanger werden möchten oder nicht, zeigt die Erfahrung des Heyva Sor Frauenkomitees. Wegen fehlendem Zugang zur Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs sind Frauen gezwungen, zu gebären, sogar wenn ihr eigenes Leben in Gefahr ist. Feminizide existieren auch in Rojava. Wenn Mädchen und junge Frauen vor einer Heirat schwanger werden, kann es für sie lebensbedrohlich sein. Eine weitere, besonders von Ausgrenzung und Gewalt betroffene Gruppe in der Gesellschaft sind Witwen, besonders wenn ihre Männer nicht im Kampf gefallen sind, also nicht Teil der politischen Strukturen waren. Die Frauenbewegung in Rojava begegnet diesen Schwierigkeiten mit einem weitreichenden Netz an Unterstützungsstrukturen, darunter Frauenhäuser und unzählige Komitees. Mit Jinwar existiert sogar ein eigenes Frauendorf. Die Frauen in Nordostsyrien haben in einem patriarchalen System und in den Clanstrukturen ihre Strukturen aufgebaut und unglaublich viel erreicht. Sie können dabei auf die Unterstützung der Bewegung zählen. Frauenbefreiung hat Priorität. Die Geschwindigkeit, mit der die gesellschaftlichen Entwicklungen vorangehen, ist beeindruckend. Der Kampf der Frauen um Befreiung ist dennoch ein langer und andauernder. Inmitten der derzeitigen Angriffe auf die Region wird er unbeirrt fortgesetzt.
In ländlichen Gebieten sind die Herausforderungen für Frauen oder queere Personen noch grösser. Genau auf diese Bedürfnisse zielt die mobile Klinik ab. In der Unit sind eine Ärztin, eine Hebamme, eine psychosoziale Beraterin, eine Community-Gesundheitsarbeiterin und eine Fachperson für Schutzmassnahmen im Einsatz. Neben medizinischen Behandlungen direkt in der Klinik liegt ein Schwerpunkt darauf, Informationen bereitzustellen, wie Frauen ihre eigene Gesundheit schützen und erhalten können. Das Informationsangebot umfasst Themen wie Menstruation, Menopause, Brustkrebserkennung, reproduktive Gesundheit, Infektionskrankheiten, Sexualität. Die Klinik betreut Schwangere und unterstützt Mütter bei Geburten, beim Stillen und der Versorgung der Babys.
Ein zentrales Anliegen der mobilen Klinik ist Sexualerziehung und -bildung. Dieses Thema ist gesellschaftlich sehr sensibel und erfordert viel Fingerspitzengefühl von den Einsatzteams. Es ist wichtig, sowohl die Besucher*innen der Klinik als auch die Teams von Heyva Sor nicht in Gefahr zu bringen. Selbstbestimmte Schwangerschaft umfasst zunächst Aufklärung darüber, wie Schwangerschaften entstehen, und wie sie allenfalls verhindert werden können, wenn sie in der aktuellen Lebensphase nicht erwünscht sind. Bei ungewollten oder gefährlichen Schwangerschaften erhalten die Mädchen und Frauen Unterstützung. Zudem wird der Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten thematisiert, ebenso wie die Frage, wie Mädchen und junge Frauen dieses Thema mit ihrem Sexualpartner besprechen können. Ein besonderes Anliegen des Teams ist es, mit der Sexualerziehung den gesellschaftlich tief verankerten Mythos der Existenz eines Jungfernhäutchens aufzubrechen. Die Informationen richten sich auch an junge Männer, besonders vor der Hochzeit.
Wie in anderen mobilen Kliniken setzt Heyva Sor auch in dieser Einheit ihr bewährtes System von Schutzmassnahmen und psychosozialer Unterstützung um. Sie bieten psychologische Hilfe für Frauen und Mädchen an, die Opfer von sexualisierten Angriffen, Ausbeutung, Vergewaltigung oder familiärer Gewalt wurden. Wenn notwendig, können die Betroffenen in Zusammenarbeit mit anderen Frauenstrukturen in sichere Räume und Schutzhäuser für Frauen weiterverwiesen werden. Dieses Angebot ist auch für queere Menschen von grosser Bedeutung. Momentan, so die Mitarbeiterinnen von Heyva Sor, können sie aufgrund von Wissens- und Erfahrungsmangel keine spezialisierte medizinische Versorgung für trans Personen im Bereich Transitionen anbieten. Dennoch bietet die mobile Health Unit erstmals einen Raum, in dem homosexuelle und trans Personen überhaupt über ihre Situation sprechen können. Ihre Existenz wird anerkannt, sie erhalten psychosoziale Begleitung und werden mit Schutzmassnahmen unterstützt. Es ist beeindruckend, wie die Frauenbewegung inmitten des Krieges das revolutionäre Projekt immer weiter vorantreibt, mutig Tabus bricht, neue Initiativen entwickelt und progressive feministische Politiken umsetzt.
Zum ersten Mal wird eine Gseundheitseinheit in Rojava vollständig von Frauen konzipiert und betrieben – von der Planung bis zur Umsetzung. Das gesamte Personal besteht aus Frauen, inklusive der Fahrerinnen.