Seit 1974 erinnert die palästinensische Bevölkerung gemeinsam mit solidarischen Gruppen weltweit am 17. April an die Situation der palästinensischen Gefangenen. Der Tag macht auf die unhaltbare Situation tausender Menschen aufmerksam, die in israelischer Haft sind oder waren – viele von ihnen ohne Anklage, ohne Verfahren, ohne Rechte.
Proteste vor dem israelischen Megiddo Gefängnis, bekannt durch Berichte über Misshandlungen und Folter von palästinensischen Gefangenen. ©Activestills, Oren Ziv
Anfang März wurde «No other land» mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Der Film zeigt am Beispiel von Masafer Yatta im Westjordanland die systematische Gewalt des israelischen Militärs gegen die palästinensische Bevölkerung – darunter willkürliche Verhaftungen und das Fehlen rechtstaatlicher Verfahren. Nur wenige Wochen nach der Ehrung wurde der palästinensische Regisseur Hamdan Ballal in seinem Heimatdorf von Siedlern angegriffen und anschliessend von der israelischen Armee festgenommen. Seine Verhaftung machte weltweit Schlagzeilen, weil selbst seine Bekanntheit ihn nicht vor den Angriffen schützte. Währenddessen werden täglich Palästinenser*innen verhaftet, kriminalisiert und inhaftiert – meist ohne nennenswertes internationales Aufsehen.
Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil stellt die palästinensische Bevölkerung weltweit die grösste Zahl an Inhaftierten. Viele von ihnen befinden sich ohne Anklage, Gerichtsverfahren oder Urteil in sogenannter Administrativhaft – einer Form der willkürlichen Inhaftierung ohne rechtliche Grundlage. Betroffen sind Menschen aller Altersgruppen, Geschlechter und gesellschaftlichen Schichten und unabhängig von ihrem Gesundheitszustand.
Jedes Jahr verurteilen israelische Militärgerichte mehrere hundert palästinensische Kinder und Jugendliche. Häufig wegen Vorwürfen wie dem Werfen von Steinen. Nach Militärrecht kann ein solches Vergehen mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft werden. Ein besonders erschütterndes Beispiel ist die Geschichte von Ahmad Manasra, der im Alter von 13 Jahren ohne Begründung und Beweise verhaftet wurde. Nach fast zehn (!) Jahren Haft, geprägt von Folter und Isolation, wurde er erst vor wenigen Tagen in die Freiheit entlassen. Unter den entsetzlichen Haftbedingungen entwickelte Ahmad Manasra eine Schizophrenie. Sein Leben ist unwiderruflich gezeichnet.
Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Zahl der palästinensischen Gefangenen in israelischer Haft fast verdoppelt – von 5’200 auf über 10’000. Zudem hat sich ihre Lage drastisch verschlechtert. Früher wurden die Gefangenen nach wenigen Tagen in Armeegewahrsam dem israelischen Gefängnisdienst übergeben. Seit Kriegsbeginn liegt die Verwahrung grösstenteils bei der Armee – dies gilt vor allem für Gefangene aus dem Gazastreifen. Viele von ihnen werden unter dem Vorwurf, Hamas-Anhänger*innen zu sein, als Kriegsgefangene behandelt. Angehörige bleiben oft ohne Informationen über ihren Verbleib oder Gesundheitszustand. Grundlage dafür ist das israelische Gesetzt über «ungesetzliche Kämpfer» (unlawful combatants), das präventive und pauschale Inhaftierungen ohne Beweise erlaubt, wenn der Verdacht besteht, die Person sei an Feindseligkeiten gegen Israel beteiligt oder stelle eine Sicherheitsbedrohung dar.
Zahlreiche Berichte, darunter der Report «Welcome to Hell» der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem, dokumentieren die systematische Misshandlung palästinensischer Gefangener in israelischer Haft. Sie belegen Praktiken wie physische und psychische Folter, sexualisierte Gewalt, Nahrungsentzug, medizinische Vernachlässigung und katastrophale hygienische Bedingungen – klare Verstösse gegen internationales Recht und die Genfer Konventionen. Besonders gravierend sind die Zustände in provisorischen Gefangenenlagern auf Militärstützpunkten wie Sde Teiman. Dort sind Gefangene ständiger Erniedrigung, Misshandlungen und psychischer Gewalt ausgesetzt.
Immer wieder haben die Misshandlungen und das bewusste Vorenthalten lebensnotwendiger medizinische Hilfe tödlichen Folgen. Zwischen dem 7. Oktober 2023 und März 2025 starben mindestens 63 Palästinenser*innen in israelischem Gewahrsam. Einer von ihnen war der 17-jährige Walid Khaled Abdullah Ahmed, der am 23. März 2025 im Gefängnis Megiddo an einer unbehandelten Infektion infolge schwerer Mangelernährung und Dehydrierung verstarb. Jene, die freigelassen werden, berichten von erschütternden Erfahrungen. Viele sind bei ihrer Entlassung in einem extrem schlechten körperlichen und psychischen Zustand.
Hebron, Januar 2025: Proteste gegen die willkürliche Festnahme von Dr. Hussam Abu Safiya, Direktor des Kamal Adwan Spitals in Beit Lahiya, und die gezielte Repression gegen medizinisches Personal in Palästina. Auf den Plakaten der protestierenden Gesundheitsarbeiter*innen steht: «Wir werden unsere humanitäre Pflicht nicht aufgeben – selbst wenn es uns das Leben kostet.» ©Activestills, Mosab Shawer
Besonders alarmierend sind die zahlreichen Berichte über die gezielte Verhaftung von Gesundheitsarbeiter*innen aus dem Gazastreifen, die in israelische Haftanstalten verschleppt wurden. Dabei handelt es sich um schwerwiegende Verstösse gegen internationales Recht: Die Genfer Konventionen stellen medizinisches Personal ausdrücklich unter besonderen Schutz – gerade in bewaffneten Konflikten.
Der aktuelle Bericht «Unlawfully Detained, Tortured, and Starved: The Plight of Gaza's Medical Workers in Israeli Costudy» der medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel (PHRI) dokumentiert diese rechtswidrigen Verhaftungen sowie Fälle von Folter und Misshandlung medizinischer Fachkräfte. Solche Übergriffe treffen nicht nur die Einzelpersonen, sondern zielen auf die gesamte Bevölkerung ab: Sie entziehen den Palästinenser*innnen gezielt den Zugang zu medizinischer Versorgung, indem jene, die helfen könnten, zum Ziel gemacht werden. Diese systematische Repression ist Teil einer umfassenden Strategie, die von der Fachzeitschrift The Lancet als «Weaponization of Health Care» beschreiben wird. Damit ist der bewusste Einsatz von Gewalt gegen das Gesundheitssystem gemeint, um die Bevölkerung zu schwächen, zu demoralisieren und lebensnotwendige Strukturen zu zerstören.
Seit 2024 unterstützt medico das Projekt «Förderung und Schutz der Rechte von Gefangenen in israelischer Haft». Das Team der medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel (PHRI) leistet juristische und medizinische Hilfe für rund 200 Gefangene pro Jahr. Auf Basis von Besuchen und Gesprächen mit Inhaftierten erstellt PHRI-Berichte über Haftbedingungen, reicht Gerichtspetitionen ein und informiert mit gezielter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit über die Missstände.
In Zeiten zunehmender Repressionen gegen Menschenrechtsorganisationen – in Israel und weltweit – sowie drastischer Kürzungen in der Entwicklungszusammenarbeit, von denen auch PHRI direkt betroffen ist, zählt unsere Unterstützung mehr denn je. Deine Spende hilft, die Arbeit von Physicians for Human Rights Israel zum Schutz der Rechte palästinensischer Gefangener fortzuführen. Danke für deine solidarische Unterstützung!