Unsere Projektverantwortliche für El Salvador und Präsidentin Maja Hess unterhielt sich mit Michael ‹Paco› Kleutgens, Arzt und Koordinator der Elternvereinigung Los Angelitos über die Ursachen und Auswirkungen des aktuellen politischen Rechtsrutsches in El Salvador. Interview mit Paco Kleutgens.

Maja Hess

Maja Hess: Paco, wie geht es den Menschen in El Salvador?

Paco Kleutgens: Nach den Parlaments- und Gemeindewahlen im März 2018 geht es den Menschen nicht besonders gut, denn die Situation ist politisch sehr angespannt. Die regierende linke Frente (FMLN, hervorgegangen aus einem Bündnis revolutionärer Kräfte) hat sieben von 31 Parlamentsabgeordneten verloren. Sie hält also nur noch 24 von insgesamt 84 Sitzen im Parlament!

Was bedeutet das konkret?

Die Rechte hat nun die 2/3 Mehrheit im Parlament. Daher wird es für den Rest der Regierungsperiode sehr schwierig werden, Mehrheiten für neue Gesetzesvorlagen zu gewinnen. Vorher konnte mit der rechten Partei GANA, die sich von der rechtskonservativen ARENA abgespalten hat, wenigstens eine einfache Mehrheit erreicht werden. Aktuell würde es dazu die Stimmen der ebenfalls rechten Parteien PCN und PDC brauchen, die jedoch stets den Kurs von ARENA unterstützt haben. Die Rechte fühlt sich so gestärkt und ist kaum mehr kompromissbereit.

Wie zeigt sich das?

Vor den Wahlen wurde mit der gesamten Zivilgesellschaft ein neues Wassergesetz diskutiert, auch die Kirche war daran beteiligt. Die Mehrheit der Artikel wurde schon verabschiedet. Nach den Wahlen hat die Rechte die gesamte Arbeit in die Schublade gesteckt und einen eigenen Vorschlag präsentiert, der vom Unternehmerverband entworfen wurde! Die Wasserpolitik wechselt damit in die Hände der Privatwirtschaft, was einer Privatisierung der Wasserversorgung gleichkommt.

Und wie stehen die Chancen der Linken für die Präsidentschaftswahlen Anfang 2019?

Leider sehen sie gemäss Wahlumfragen sehr düster aus. Die Stimmung in der Linken schwankt zwischen Resignation und Durchhalteparolen. Gewisse Parteileute entwickeln daher einen Zweckoptimismus. Ich persönlich bin pessimistisch und glaube nicht mal, dass der Frente-Kandidat Hugo Martinez es in den zweiten Wahlgang schaffen wird.

GANA hat mit Nayib Bukele, dem ehemaligen Bürgermeister von San Salvador, der aus der Frente ausgetreten ist, gute Chancen. Wir als Linke müssen zwischen Teufel und Belzebub wählen ... Und selbst wenn die Frente gewinnen würde, wären die ersten zwei Amtsjahre wegen der starken Rechten im Parlament äusserst schwierig.

Wie geht es Dir persönlich damit?

Ich hatte stets das Gefühl, es gehe vorwärts: langsam, aber sicher. Aktuell habe ich diesbezüglich keine Hoffnung mehr. Wenn die Rechte jedoch glaubt, sie könne nun machen, was sie wolle, wird das zu einem erneuten Erstarken der Basisbewegungen führen. Bereits rund um dieses Wassergesetz hat es massive Proteste gegeben. Nur sind die sozialen Organisationen noch gespalten und neidisch aufeinander. Da gibt es noch einiges zu verändern. Ausserdem sehe ich auch die Frente in der Verantwortung für dieses politische Debakel.

Wie und warum?

Hier sehe ich drei Probleme: Erstens haben Sparentscheide der Regierung gerade die untere Mittelschicht hart 
getroffen. Dabei ging es um den Versuch, die Subventionen für Wasser, Gas und Strom ausschliesslich der Unterschicht zukommen zu lassen. Es ist jedoch schwierig, diese zu eruieren. Wir haben kein Steuer- oder Lohnsystem, das sichtbar macht, wer wie viel verdient. Deshalb wurden diese Subventionen an den Stromverbrauch gekoppelt. Wer nur gerade Strom für den Haushalt brauchte, hatte Anrecht auf Subventionen. Viele Menschen sind jedoch im informellen Sektor tätig, 
haben einen kleinen Laden mit einer Tiefkühltruhe und verbrauchen deshalb mehr Strom als den Grundbedarf. Sie wurden von den Subventionen ausgeschlossen. Das hat die Leute frustriert. Genauso flatterte jeden Monat die Wasserrechnung ins Haus, obwohl häufig kein Wasser aus den Hähnen floss. Und auf die Prepaidkarten der Handys wurden Gebühren erhoben, die eigentlich die Telefongesellschaften hätten zahlen sollen. Klar, die Finanzen lagen im Argen. Die Frente hat wegen der Blockierungspolitik von ARENA keine Kredite mehr bekommen, und die nationale Sicherheit frass eine Menge Geld.

Zweitens hat die von der Rechten dominierte Presse die öffentliche Meinung massiv beeinflusst. Die Regierung wurde permanent der Unfähigkeit bezichtigt. Und es hagelte Korruptionsvorwürfe, obwohl die wirklichen Korrupten die Rechten waren! Die Regierung war unter medialem Dauerfeuer. Das hat seine Wirkung leider nicht verfehlt.

Drittens haben die Parlamentsabgeordneten der Frente zu wenig auf die Symbolwirkung ihres Auftritts geachtet, wenn sie sich in teuren Autos und mit einer Schar von Leibwächtern in der Öffentlichkeit zeigten oder private Gesundheitsversicherungen abschlossen! Diese drei Bereiche haben der Glaubwürdigkeit der linken Politik geschadet.

Was hat denn die linke Regierung Positives geleistet?

Seit Jahrzehnten waren die beiden linken Regierungen unter Funes (2009-2014) und Sánchez Céren (seit 2014) die einzigen, die Investitionen in den sozialen Bereich, Gesundheit und Bildung getätigt haben, was gerade der Unterschicht sehr zugute kam. Die Rechte wird dies rückgängig machen, sobald sie an die Macht kommt. Ausserdem hat sich die Sicherheitslage verbessert. Auch wenn es absurd tönt: Heute gibt es ‹nur› noch 10 Morde pro Tag. Früher waren es mindestens 24!

Welche Auswirkungen hat diese Situation auf das Projekt Los Angelitos?

Aktuell sind wir in einem heftigen Clinch mit der Regierung, was das seit Jahren umstrittene Gesetz der Inklusion für den Einschluss der Menschen mit Behinderungen ins öffentliche Leben betrifft. Wir bedauern sehr den Rücktritt des Frente-Minsters Gerson Martínez. Er war Präsident des Gremiums, in dem die Regierung und die Behindertenorganisationen mit je sieben Personen vertreten waren. Gerson hatte unsere Strategie und unsere Vorschläge klar unterstützt. Die aktuelle Entwicklung wird leider durch die neue personelle Besetzung stark behindert.

Dennoch sind wir trotz der veränderten Mehrheitsverhältnisse im Parlament verhalten optimistisch. Die beiden Frente-Vertreterinnen der drei-köpfigen parlamentarischen Kommission, welche den Gesetzesvorschlag im Auftrag des Parlaments prüft, scheinen uns seit dem desaströsen Wahlergebnis sehr viel stärker und aktiver zu unterstützen, da wir als soziale Organisation auch ein wichtiger Teil der politisch linken Basisbewegung sind. Ausserdem hat sich der Präsident dieser Kommission, ein ARENA-Politiker, der selber mit einer schweren Behinderung lebt, aufgrund seiner eigenen Geschichte zum Thema Inklusion bereits früher weit aus dem Fenster gelehnt. Dies verbessert die Chancen, die Diskussion zum Gesetzes-
vorschlag im Parlament endlich in Gang zu bringen. Das Resultat wird unter anderem auch von unserer Fähigkeit abhängen, weiterhin Druck zu machen. Dass die Frente vermehrt auf die Karte setzt, massiv die sozialen Bewegungen zu unterstützen, ist für uns dabei natürlich hilfreich. Und nicht zuletzt wären unter der Regierung der Rechten diese Diskussion und der Gesetzesvorschlag in dieser Form überhaupt nie auch nur im Ansatz möglich gewesen!

Und wie sieht die Arbeit an der Basis aus?

Die geht sehr gut weiter. Die Leute sind jenseits der politischen Schwierigkeiten voll bei der Sache. Natürlich, die alltäglichen Probleme gehen weiter, hier gibt es nichts Neues. Wir betreiben als Angelitos ja keine Expansionspolitik, aber es kommen laufend neue Familien und Menschen dazu. Und die sieben Behindertenorganisationen haben sich in den letzten Jahren geeint, sprechen mit einer Stimme. Früher waren sie stets zerstritten. Wir werden lokal, national und sogar international wahrgenommen als die Organisation mit extrem viel Erfahrung im Bereich der Behindertenarbeit und -politik.

Wir sind nach ALGES, der Organisation für kriegsversehrte Menschen, die zweitgrösste Organisation, die sich um die Anliegen aller Menschen mit Behinderungen kümmert und nicht ausschliesslich um bestimmte Gruppierungen. Im Fokus der täglichen Arbeit stehen Kinder, Jugendliche und ihre Angehörigen. Jedoch in sozial-politischen Fragen greifen wir die 
Bedürfnisse aller Menschen mit Behinderungen auf, wie das unsere Bemühungen rund um das Gesetz der Inklusion zeigen. Ausserdem haben wir die stärkste politische Einflussnahme im Bereich der öffentlichen Behindertenpolitik und -problematik. Da wir finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, wesentlich von medico inter-national schweiz, sind wir unabhängig von staatlichen Geldern und können uns deshalb lautstark bemerkbar machen, um die Lebensbedingungen und die Chancen von Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen nachhaltig zu verbessern.

Paco, vielen Dank für das Gespräch!