Die beiden ezidischen Frauen Awaz Abdi und Dr. Leyla Ferman kämpfen für die Aufarbeitung des Genozids von 2014 im Shengal. Ein Gespräch über Erinnern, Widerstand und die Verantwortung von Regierungen.
Das Interview führte Alice Froidevaux
Eine ezidische Frau pflanzt einen Baum an einer Gedenkstätte für den Genozid an ihrem Volk im Shengal, Nordirak.
medico: Awaz, du hast als 10-jährige den Genozid des «Islamischen Staates» (IS) an der ezidischen Bevölkerung überlebt und lebst heute in Deutschland. Kannst du uns von diesem schwierigen Weg erzählen?
Awaz: Ich bin in einem Dorf im nordirakischen Shengal aufgewachsen. Der starke Gemeinschaftssinn der ezidischen Community prägt mich bis heute. Mit unserer Familie lebten wir ein bescheidenes, aber sehr glückliches Leben – bis wir am 3.August 2014 plötzlich vor den IS-Truppen fliehen mussten. Auf der Flucht blieben wir im Shengal-Gebirge stecken. Die Strassen waren verstopft. Wir gingen zu Fuss weiter. Plötzlich hörten wir Schüsse, IS-Kämpfer entdeckten uns. Sie trennten uns: Mein Vater und meine Mutter kamen in ein Auto, ich mit meinen Geschwistern in ein anderes. Ab da hatten wir für Monate keinen Kontakt mehr zu unseren Eltern. Kurzzeitig wurden wir mit anderen Familienmitgliedern im Haus meines Onkels in Shengal-Stadt festgehalten. Die IS-Kämpfer kontrollierten das Haus. Bei einer ihrer Runden kündigten sie an, dass sie am nächsten Tag «die Mädchen abholen» würden. Wir Kinder begriffen nicht, was das bedeutete, aber die Erwachsenen brachen verzweifelt in Tränen aus. In derselben Nacht gab es einen Luftangriff; wir wussten nicht, was genau passiert war, aber die IS-Männer kehrten nie zurück. Wir hatten unglaubliches Glück. Daraufhin flohen wir in ein Nachbardorf – doch auch dort waren wir von IS-Truppen umzingelt und erneut gefangen. Die Dorfbewohner*innen bereiteten die nächste Flucht vor. Wir schliefen jede Nacht angezogen und mit einer Wasserflasche griffbereit, um jederzeit loslaufen zu können. Schliesslich gelang uns die Flucht, aber wir mussten unsere Oma zurücklassen. Wir liefen tagelang, bis wir in der Autonomen Region Kurdistan ankamen. Wir waren endlich in Sicherheit, doch ich fühlte mich weiterhin verloren, weil wir nichts von unseren Eltern wussten. Erst im Februar 2015 konnten sie aus der Gefangenschaft entkommen. Mein Vater rief uns an und sagte, dass sie lebten. Das war wohl einer der schönsten Momente meines Lebens.
Wie seid ihr dann nach Deutschland gekommen?
Awaz: Ende März 2015 kam das Thema des Sonderkontingents auf: Frauen und Kinder, die aus der IS-Gefangenschaft entkommen waren und dringend physische und psychische Hilfe brauchten, konnten nach Deutschland gebracht werden. Für uns war die Entscheidung schwierig. Wir waren erst seit kurzem wieder als Familie vereint und dieser Schritt bedeutete eine erneute Trennung – mein Vater blieb schliesslich vorerst im Irak, während wir mit unserer Mutter nach Deutschland gingen. Im Mai 2015 kamen wir in Freiburg an. Für meine Mutter war diese Phase unglaublich hart. Sie hatte kaum Zeit gehabt, die Erlebnisse der Gefangenschaft zu verarbeiten, jetzt stand sie plötzlich in einem fremden Land, allein mit sechs Kindern. Ich erinnere mich, dass sie kaum einmal Luft holen konnte. Das hat sie stark belastet, und ich merke, dass sie damit auch Jahre später noch zu kämpfen hat. Für uns Kinder war es einfacher, weil wir Unterstützung erhielten – von Sozialarbeiter*innen, engagierten Freiwilligen. Ich ging in die Schule, konnte die Sprache lernen, habe meinen Schulabschluss gemacht und letztes Jahr Abitur. Heute studiere ich.
Was hilft dir, mit den Erlebnissen der Vergangenheit umzugehen?
Awaz: Zu Beginn habe ich in Deutschland kaum realisiert, was wirklich geschehen ist. Der Alltag war voller neuer Herausforderungen und ich hatte wenig Raum, die Erlebnisse zu verarbeiten. Doch mit der Zeit und durch wiederkehrende Albträume wurde mir immer bewusster, was passiert war. Lange fiel es mir schwer, die Realität von meinen Erinnerungen zu unterscheiden. Therapeutische Unterstützung hat mir sehr geholfen. Mit den Jahren begann ich Aufgaben für meine Familie zu übernehmen, begleitete sie zu Behörden, half beim Übersetzen – da merkte ich, dass das Thema Flucht und die Tatsache, dass ich Ausländerin bin, stets präsent bleiben werden. Vermehrt stellte ich mir die Frage: Woher komme ich überhaupt? Schliesslich führte mich mein Weg zum Theater, wo ich im Stück «Licht» erstmals öffentlich über meine Geschichte sprach. Es war eine heilende Erfahrung, meine Erlebnisse auf der Bühne zu teilen, und zu spüren, dass Menschen da sind, die zuhören und verstehen wollen. Ich erkannte, wie wichtig es ist, den Genozid sichtbar zu machen, denn zehn Jahre später sind die Erinnerungen für uns Überlebende noch immer lebendig und die Verfolgung ist real. Ich fühle mich heute verpflichtet, darüber zu sprechen – auch für jene, die selbst keine Stimme haben.
Leyla, du hast «Women for Justice» mitgegründet. Ihr unterstützt Überlebende rechtlich, betreibt Aufklärungsarbeit und fördert soziale Projekte im Shengal. Wie kamst du zu diesem Engagement?
Leyla: Ich bin in Deutschland aufgewachsen, habe jedoch ezidisch-kurdische Wurzeln. Meine Familie stammt aus dem kurdischen Südosten der Türkei. Der Genozid vom 3.August 2014 hat mich tief geprägt. Schon vorher war ich in der starken ezidischen Gemeinde im Norden Deutschlands engagiert, aber nach diesem Ereignis bekam das Engagement eine neue Bedeutung. Der Genozid hat unsere Gemeinschaft nachhaltig beeinflusst und das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt. Trotz der Ohnmacht haben wir versucht, durch Pressearbeit und Hilfsaktionen etwas zu bewegen und haben es geschafft, Unterstützung vor Ort zu organisieren. «Women for Justice» entstand aus der «Plattform für den Kampf für Frauen in Gefangenschaft» die 2015 im kurdischen Südosten der Türkei von Fachfrauen gegründet wurde – Anwältinnen, Akademikerinnen, Ärztinnen, Sozialarbeiterinnen. Wir begannen Interviews mit überlebenden Frauen zu führen. 2018 wurde «Women for Justice» in Deutschland gegründet, mit dem Ziel, den Genozid auf verschiedenen Ebenen rechtlich aufzuarbeiten und die Selbstorganisation von Frauen zu fördern. Unsere Interviews dienen als Beweismittel in Prozessen gegen IS-Täter. Mit dem «Yazidi Justice Committee» haben wir zudem einen Bericht zur staatlichen Verantwortlichkeit im Genozid erarbeitet. Er zeigt, dass Syrien, der Irak und die Türkei gegen Bestimmungen der UNO-Völkermord-Konvention verstossen haben. Wir suchen nun Staaten, die bereit sind, gegen eines dieser Länder zu klagen – eine Herausforderung, da politische und wirtschaftliche Interessen oft über Menschenrechten stehen. Wir befassen uns auch mit aktuellen Bedrohungen in der Region: Derzeit läuft zum Beispiel eine Beschwerde bei den Vereinten Nationen in Bezug auf einen türkischen Luftangriff, der 2021 ein ziviles Krankenhaus in Skeniye zerstörte.
Für die Zurückgekehrten ist der Wiederaufbau schwierig: Noch immer leben viele Ezid*innen im Shengal in Zeltlagern und provisorischen Unterkünften.
Der Genozid an den Ezid*innen war auch ein gezielter Femizid. Wie leisteten die ezidischen Frauen Widerstand?
Leyla: Die Geschichten der Überlebenden zeugen von den vielfältigen Formen des Widerstands ezidischer Frauen. Während ihrer IS-Gefangenschaft weigerten sich einige, zum Islam zu konvertieren, was oft harte Strafen nach sich zog. Andere versuchten immer wieder zu fliehen, trotz Folter und Bestrafungen bei jedem gescheiterten Versuch. Auch heute setzen die Frauen ihren Widerstand entschlossen fort. Im Shengal sind sie im sogenannten Frauenrat oder auch in NGOs aktiv, die beim Wiederaufbau helfen und sich für die Rechte und den Lebensunterhalt ihrer Gemeinschaft einsetzen. Zudem gibt es nach dem Vorbild der kurdischen YPJ erstmals eine ezidische Frauenverteidigungseinheit, die zur Sicherheit ihrer Heimat beiträgt.
Awaz: Ich möchte hier hervorheben, dass viele Ezid*innen nach wie vor in IS-Gefangenschaft im Irak, Syrien und auch vereinzelt in der Türkei sind. In der Öffentlichkeit wird wenig über ihr Schicksal berichtet. Hier in Deutschland kenne ich viele ezidische Mütter, die nach zehn Jahren noch immer auf ihre entführten Kinder warten. Die Stärke dieser Frauen ist bewundernswert, während die Untätigkeit der Regierungen für mich unverständlich bleibt.
Welche Forderungen habt ihr für die Zukunft?
Awaz: Im Mai dieses Jahres kehrte ich zum ersten Mal nach Shengal zurück und war erschüttert, wie wenig wieder aufgebaut wurde. Zehn Jahre nach dem Genozid fehlt es immer noch an Sicherheit und Stabilität, viele Ezid*innen leben weiter in Angst. Obwohl der IS militärisch besiegt wurde, lebt seine Ideologie fort. Es ist unerträglich, dass die Ezid*innen auch in ihrer eigenen Heimat als Flüchtlinge existieren müssen. Wir fordern eine ernsthafte Aufarbeitung des Genozids, sowohl in Europa als auch im Irak. Die internationale Gemeinschaft muss aktiv für unsere Sicherheit eintreten. Hier in Deutschland müssen wir als Ezid*innen die Gewissheit haben, dass unsere Rechte geschützt sind und dass wir nicht Gefahr laufen, abgeschoben zu werden. Es ist ein Skandal, dass nach der Anerkennung des Genozids immer noch Abschiebeprozesse stattfinden. Unsere Stimmen müssen gehört werden und wir müssen als Teil der Gesellschaft anerkannt werden.
Leyla: Obwohl wir in Europa oder Deutschland leben, sind wir eng mit der Heimatregion unserer Eltern verbunden. Ich wünsche mir, dass die Ezid*innen einen eigenen Status erhalten, insbesondere im Shengal. Ohne ein historisches Siedlungsgebiet wird es für die Ezid*innen im «Nahen Osten» sehr schwierig.