Zehn Jahre nach dem Genozid an den Ezid*innen sprach medico mit Jamila Hami vom Kurdischen Roten Halbmond über die Rettungsaktionen im Shengal-Gebirge und wie die Ereignisse von 2014 ihre Arbeit bis heute beeinflussen.
Alice Froidevaux
Über 100'000 Menschen flohen durch einen von kurdischen Kämpfer*innen erkämpften Fluchtkorridor vom Shengal nach Syrien – sie waren tagelang zu Fuss unterwegs. ©Heyva Sor a KurdAm 3.August 2014 überfiel der «Islamische Staat» das Shengal-Gebiet im Nordirak. Tausende Ezid*innen wurden ermordet, verschleppt oder in die Flucht getrieben. Frauen und Mädchen wurden versklavt. Zehntausende flohen ins Gebirge, wo sie tagelang ohne ausreichende Versorgung bei bis zu 40 Grad ausharrten. Zu Hilfe kamen schliesslich die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava und Kämpfer*innen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die aus Syrien einen Fluchtkorridor erkämpften. Über 100000 Menschen konnten gerettet werden. Jamila Hami vom Kurdischen Roten Halbmond (KRC für die englischen Initialen) versorgte an vorderster Front Geflüchtete.
medico: Wie habt ihr damals in Rojava von den IS-Angriffen auf Shengal erfahren und euch entschieden, Hilfe zu leisten?
Jamila: Der 3.August 2014 war ein finsterer Tag, der uns allen schmerzliche Erinnerungen gebracht hat. Schon als Kind wollte ich den Shengal immer besuchen, weil meine Mutter mir davon erzählte, doch leider lernte ich die Region erst in diesen dunklen Zeiten kennen. Zu der Zeit war KRC noch eine sehr kleine Organisation. Wir hörten zuerst über die offiziellen Medien der Selbstverwaltung Rojavas vom IS-Angriff, kurze Zeit später berichteten auch internationale Medien. Bald war klar, dass die YPG/YPJ-Einheiten einen Korridor freikämpfen wollten, um den Menschen zu helfen. Ein erster Konvoi mit vier KRC-Mitgliedern machte sich auf den Weg dorthin, während ich zuerst in Nordsyrien half, die Aufnahme der Geflüchteten vorzubereiten.
Kannst du ein paar konkrete Erfahrungen teilen?
Es fällt mir immer noch sehr schwer, über das Erlebte zu sprechen. Es war erschütternd, die vielen Menschen zu sehen, die tagelang zu Fuss unterwegs waren – Frauen, Kinder, ältere Menschen. Wir hörten unzählige schreckliche Geschichten: Junge Frauen, die sich aus Angst vor einer IS-Gefangenschaft von Klippen stürzten, oder Familien, die Angehörige zurücklassen mussten, weil ihnen die Kraft fehlte, weiterzugehen. Doch es gab auch positive Erlebnisse: Inmitten des Rettungskorridors durfte ich nach der Notversorgung einer schwangeren Frau ihr gesundes Baby entbinden. Solche Geschichten gaben uns trotz all des Leids Hoffnung und Mut. Wir hatten nur eine improvisierte Ambulanz und ein provisorisches Zelt zur Verfügung. Ohne die immense Solidarität der Bevölkerung wäre die Rettungsaktion nicht möglich gewesen. Die Menschen aus Rojava brachten Wasser, Lebensmittel, Kleidung und halfen mit ihren Autos, Geflüchtete zu transportieren. Schnell wurde die Hilfe auf Gemeindeebene organisiert. Damals erhielt KRC noch keine internationale Unterstützung, alles kam von den selbstorganisierten Menschen vor Ort.
Die Angriffe des IS richteten sich besonders brutal gegen Frauen. Wie bist du mit dieser Bedrohung umgegangen?
Auch als Frau habe ich nie eine Sekunde darüber nachgedacht, ob unser Einsatz zu riskant für mich sein könnte oder ob ich vom IS gefangen genommen werde. Mein ganzer Fokus lag darauf, so viele Menschen wie möglich aus dem Korridor zu retten.
Die Begegnungen mit den kurdischen Kämpferinnen prägten die ezidischen Frauen. Wie hast du diese Entwicklung erlebt?
Der Unterschied zwischen unserer Geschichte und jener der ezidischen Frauen ist, dass wir nie einem so direkten Angriff ausgesetzt waren wie sie. Als sich das syrische Regime aus Nordostsyrien zurückzog und die Selbstverwaltung in Rojava entstand, konnten wir uns mit Unterstützung der kurdischen Bewegung organisieren, wir stärkten die Frauen in den verschiedenen Institutionen und bauten sogar eine weibliche Selbstverteidigungseinheit auf. Die Frauen im Shengal hatten diese Chance nicht. Als der IS angriff, hatten sie keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Nach dieser schmerzhaften Erfahrung sagten sie: nie wieder! Heute bilden sich im Shengal ähnliche Frauenstrukturen wie in Rojava.
Wie formten die Ereignisse 2014 KRC?
Unsere Kapazitäten waren damals sehr begrenzt. Was uns stark machte, war der Teamgeist, der Wille zu helfen und die enorme Solidarität der Bevölkerung. In dieser Zeit ging es nur um akute Nothilfe. Doch die Bedürfnisse der Bevölkerung und Geflüchteten wuchsen stetig. Überall, wo die kurdischen Kämpfer*innen den IS zurückdrängten, entstanden Versorgungslücken, die wir zu füllen versuchten. Es entstanden Flüchtlingscamps, wir bauten Gesundheitszentren auf, und so wuchs die KRC-Community. Anfangs arbeiteten viele ehrenamtlich, erst später konnten wir uns professionalisieren und dank internationaler Unterstützung Löhne zahlen.
Welche Rolle spielt die internationale Gemeinschaft für die Menschen und die Arbeit von KRC in der Region?
Nach 2014 gab es viele grosse Versprechen von der internationalen Gemeinschaft: Die kurdischen Kämpfer*innen wurden als Held*innen gefeiert, den Ezid*innen Unterstützung zugesagt. Doch vieles davon blieb aus. Heute werden die Rückkehrer*innen im Shengal und die Bevölkerung in Rojava im Stich gelassen. Die Selbstverwaltung und lokale NGOs stehen alleine da mit den zehntausenden IS-Kämpfern und ihren Angehörigen, die im Al-Hol Camp untergebracht sind. Das Camp ist ein Brennpunkt. Der IS hält dort immer noch verschleppte Ezid*innen fest. Zudem leben wir weiterhin im Krieg. Das türkische Militär greift Rojava täglich an, während die Welt grösstenteils schweigt. Als KRC wahren wir die Prinzipien des Roten Kreuzes und behandeln Verletzte auf allen Seiten. Auch wenn unsere Arbeit oft von Feinden bedroht wird, die weder Gesetze noch humanitäre Werte respektieren und selbst medizinisches Personal angreifen, bleiben wir konsequent unseren menschlichen Werten treu.