Während sich die Aufmerksamkeit der israelischen und internationalen Öffentlichkeit auf den Krieg und die humanitäre Krise in Gaza richtet, intensiviert und beschleunigt sich seit dem 7. Oktober auch die israelische Siedler- und Militärgewalt im Westjordanland drastisch. Die medico-Partnerorganisationen leisten in diesem Kontext lebenswichtige Arbeit.

Alice Froidevaux

«Viele Gemeinden in der Westbank, mit denen wir eng zusammenarbeiten, waren in den letzten zwei Wochen unablässigen Angriffen ausgesetzt, weil man versuchte, die Menschen zu vertreiben, um Platz für jüdische Siedlungen zu schaffen. Zu diesen Angriffen gehören Tötung, Misshandlung, Folter und Deportation», schreibt die medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel (PHRI). Bereits mit der Ernennung der aktuellen rechtsextremen Regierungskoalition in Israel im November 2022 hat die Gewalt und Unterdrückung gegen die palästinensische Bevölkerung stark zugenommen. Seit Ausbruch des Krieges am 7. Oktober nimmt sie noch einmal ein neues, erschreckendes Ausmass an.

©Activestills, Foto: Anne Paq
 
Menschenrechtsorganisationen wie B’Tselem berichten über vermehrte Angriffe auf die Wasserversorgung von palästinensischen Gemeinden im Westjordanland sowie über die Beschneidung des Zugangs zu Weideland und Wasserbrunnen. Die israelische Armee (IDF) hat verschiedene Ausgangssperren und Blockaden verhängt, unter anderem über 11 Stadtteile im Gebiet Hebron, und es gab weitere Militäroperationen aus der Luft und mit Bodentruppen, zum Beispiel in der Stadt Jenin. «Nicht nur in Gaza, auch in der Westbank nehmen die Menschen die aktuelle Situation als zweite Nakba war. Sie werden gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben, sie werden belagert und angegriffen», berichten unsere Kolleg*innen der Palestinian Medical Relief Society (PMRS).

Mehr als Zahlen

Gemäss Zahlen des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden seit dem 7. Oktober im Westjordanland 218 Angriffe von Siedler*innen auf Palästinenser*innen registriert. Mindestens 111 palästinensische Haushalte mit 905 Personen wurden durch Siedlergewalt und Zugangsbeschränkungen vertrieben. 150 Palästinenser*innen wurden von israelischen Streitkräften, weitere acht von israelischen Siedler*innen getötet. Somit macht die Zahl der seit dem 7. Oktober getöteten Palästinenser*innen im Westjordanland bereits mehr als ein Drittel aller palästinensischen Todesopfer in der Region im Jahr 2023 (397) aus.1
 
Stark zugenommen haben auch die oft illegalen und brutalen Festnahmen von Palästinenser*innen. Laut PHRI hat sich die Zahl der Palästinenser*innen in israelischem Gewahrsam seit dem 7. Oktober verdoppelt und liegt nun bei rund 10.000 Häftlingen und politischen Gefangenen, die in den israelischen Gefängnissen systematischen Misshandlungen und Folter ausgesetzt sind. Laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Addameer befinden sich 2070 Palästinenser*innen aus der West Bank in Administrativhaft, das heisst, ohne Gerichtsurteil, ohne Prozess und oft ohne, dass sie wissen, was ihnen vorgeworfen wird.2

Kolonialistische Politik

«Solche dramatischen Zahlen haben wir in der Westbank seit Jahren nicht mehr gesehen,» schreibt Yehuda Shaul, ehemaliger Soldat des IDF und Mitgründer der Organisation Breaking the Silence, die Aufklärungsarbeit über die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland betreibt. Die extreme Eskalation der Gewalt werde durch die totale Straflosigkeit für die Siedlerangriffe seitens der israelischen Behörden begünstigt. Diese Straflosigkeit sei zwar schon lange systemimmanent in der Westbank. Was sich in den letzten zwei bis drei Jahren geändert habe, sei, dass es immer mehr Fälle gibt, in denen Soldat*innen die Angriffe auf Palästinenser*innen nicht mehr nur zuliessen, sondern sich selbst daran beteiligen. «Das liegt am soziologischen Wandel in der israelischen Armee», sagt Yehuda, «Immer mehr nationalreligiöse Jüdinnen und Juden, aus denen der ideologische harte Kern der Siedler*innen stammt, dienen in Kampfeinheiten.»
 
Für die PHRI macht die Tatsache, dass das israelische Militär Hilltop Boys (extremistische religiös-nationalistische jüdische Jugendliche) rekrutiert hat und eng mit Siedlermilizen zusammenarbeitet, deutlich, dass es sich bei den «Enteignungen, der versuchten ethnische Säuberung palästinensischer Gemeinden und der ungehinderten Gewalt» im Westjordanland um eine politische Angelegenheit handelt. Was zurzeit im Schatten des Gaza-Krieges in der Westbank passiere, sei Teil einer offiziellen kolonialistischen Politik Israels.

Zugang zu Gesundheitsversorgung

Im Rahmen der Zuspitzung der Situation im Westjordanland verschlechtert sich auch der Zugang zu medizinischer Versorgung weiter und die Bedrohung für Gesundheitsarbeiter*innen und Notfallteams nimmt zu. Gemäss PHRI gab es zwischen dem 7. und 25. Oktober 81 Angriffe auf Gesundheitspersonal und Ambulanzen. Zudem missachte die israelische Armee bei Militäroperationen immer wieder die Verfahren für die Evakuierung von Verletzten und die Pflicht, den behandelnden Ärzt*innen Zugang und Schutz zu gewähren. Die Durchfahrt von Ambulanzen werde verhindert und schon mehrfach seien Krankenwagen-Besatzungen festgenommen worden.
 
Ganze zwei Wochen war zudem der Zugang durch den Hauptcheckpoint «Qalandiya» von der Westbank nach Jerusalem, wo sich die modernsten palästinensischen Krankenhäuser befinden, blockiert. So waren Patient*innen gezwungen, über den Hizma-Checkpoint zu reisen – ein Checkpoint, der nur mit dem Auto passierbar ist und gleich neben einer israelischen Siedlung liegt. Trotz der Wiedereröffnung des Qalandiya-Checkpoints ist die Bewegungsfreiheit nach wie vor stark eingeschränkt, was sich negativ auf das Leben vieler Tausend Menschen auswirkt. Die von medico unterstützte Arbeit von mobilen Kliniken und lokalen Gesundheitspromotor*innen und Notfall-Teams ist in der aktuellen Zeit also wichtiger denn je!

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Die Gewaltpolitik muss gestoppt werden

«Die Blase, die am 7. Oktober geplatzt ist, beinhaltete nicht nur die israelische Gaza-Politik. Es geht auch um die allgemeine israelische Politik gegenüber Palästina, auch im Westjordanland und insbesondere dort,» schreibt Yehuda Shaul weiter. Bei aller Schrecklichkeit der aktuellen Situation in Gaza dürfen wir also auch das Westjordanland nicht aus dem Blick verlieren. Unsere Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand und nach einem Stopp der Gewaltpolitik und der Tötungen unschuldiger Zivilpersonen müssen für alle besetzen palästinensischen Gebiete und auch für Israel gelten. Und sie sind an die israelische Regierung und an die Hamas gerichtet: medico international schweiz fordert die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte von allen Parteien, zu jeder Zeit. Unser Fokus liegt auf dem Kampf für das Recht auf Gesundheit für alle. Deshalb unterstreichen wir: Das Gesundheitspersonal, Gesundheitseinrichtungen und Patient*innen dürfen NIE zur Zielscheibe werden!
 
Wir bedanken uns bei unseren Spender*innen für die grosse solidarische Unterstützung. Dank Ihren Spenden bleibt die wichtige Arbeit der medico-Partnerorganisationen in Palästina / Israel und in weiteren Teilen der Welt möglich – herzlichen Dank!
 
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1 Zahlen Stand 7. November 2023
2 Zahlen Stand 6. November 2023

Quellen: