Los Angelitos engagiert sich für die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in El Salvador. Das zunehmend repressive Umfeld und schwindende zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume stellen die medico-Partnerorganisation vor grosse Herausforderungen. Vier Vertreter*innen teilen ihre Einschätzungen.

Marco Genoni & Angelika Stutz

Los Angelitos wurde als Elternvereinigung gegründet. Wie arbeitet ihr?

Marleni R.: Unsere Arbeit basiert auf dem Konzept der gemeindebasierten Rehabilitation. Wir glauben fest daran, dass eine erfolgreiche Inklusion von Menschen mit Behinderung die aktive Beteiligung ihrer Familien und Gemeinschaften erfordert – sie kennen deren Realität und Bedürfnisse am besten. Als Promotorin betreue ich rund 20 Familien in der Region Cabañas. Im regionalen, gemeinschaftlich organisierten Reha-Zentrum bieten wir Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie an. Wir Promotoras haben eine enge Bindung zu den Familien und führen bei Bedarf auch Hausbesuche durch. Familien, die sich für unsere Angebote interessieren, müssen langfristig bereit sein, sich auch für die Anliegen von Menschen mit Behinderung in der Gemeinschaft einzusetzen. Es ist ein Geben und Nehmen.
Dominga E.: Als Mutter eines Kindes mit Behinderung war ich Mitgründerin der regionalen Los Angelitos-Gruppe. Durch die Therapien hat sich der Entwicklungsstand meines Sohnes, Juan Carlos, deutlich verbessert. Er kann heute laufen und besser kommunizieren. Ich möchte dazu beitragen, dass auch andere Familien solche Fortschritte erleben können. Ich sehe bereits Veränderungen: Juan Carlos konnte nicht zur Schule gehen, da die Lehrpersonen ihm keine Aufmerksamkeit schenkten. Dank des Engagements von Los Angelitos besuchen Kinder mit Be-hinderungen heute die Schule und werden sozial integriert.
 
Juan Carlos E.: Als junge Erwachsener mit Behinderung bringen wir uns auch immer stärker selbst in der Organisation ein. Ich bin Teil der Jugendgruppe in Cuscatlán/Cabañas und nehme auch ausserhalb von Los Angelitos an regionalen Jugendversammlungen teil. Unser Leitsatz ist «Nichts über uns, ohne uns».
 
Der 2024 wiedergewählte Präsident Bukele regiert das Land bereits seit über zwei Jahren im Ausnahmezustand. Wie erlebt ihr diese Situation?

Carole B.: Die Unterstützung von Bukele in der Bevölkerung bleibt stark, da die Bandenkriminalität unter seiner Präsidentschaft gesunken ist. Die kriminelle Gewalt wurde jedoch weitgehend durch staatliche Gewalt ersetzt. Den hohen Preis bezahlt erneut die wirtschaftlich schwächer gestellte Bevölkerung. In Gemeinden, die für die Opposition gestimmt haben, ist die Repression besonders stark. Die Menschen haben grosse Angst. Seit der Gründung im Jahr 2004 arbeite ich als Physiotherapeutin innerhalb von Los Angelitos. Ich lebe in einer Gemeinde von Chalatenango, einem Departament im Norden des Landes. Ende März marschierten hier über 5000
Soldat*innen und 1000 Polizist*innen ein und riegelten vier Gemeinden ab, um zwei mutmassliche Gang-Mitglieder, die des Mordes beschuldigt wurden, zu verhaften. Weder gehörten die beiden zu einer Gang noch hatten wir in diesen Gemeinden je Probleme mit kriminellen Banden. Die Militärinvasion sollte der Abschreckung dienen.
 
Marleni R.: Auch wir spüren die grosse Verunsicherung der Leute. Regel-mässige Austauschtreffen mit den Eltern sind ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit. In letzter Zeit wird es immer schwieriger, diese Treffen zu organisieren, weil sie Angst haben, das Haus zu verlassen. Zugute kommt uns, dass viele von ihnen eine langjährige Bindung zu Los Angelitos haben und uns vertrauen.

Wie setzt ihr euch unter diesen Umständen weiterhin für die Anliegen eurer Mitglieder ein?

Carole B.: Neben unserem Bewegungstherapie-Angebot und unserer Arbeit zur sozialen und wirtschaftlichen Inklusion sind die öffentliche Advocacy und das Einfordern der Rechte von Menschen mit Behinderung der wichtigste Pfeiler unserer Arbeit. Leider nehmen die Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft immer mehr ab. Da derzeit keine Massenkundgebungen möglich sind, planen wir Ende Mai anlässlich des 16.Jahrestags der Inkraftsetzung der Behindertenkonvention ein Event mit Gästen aus der nationalen und internationalen Diplomatie sowie Vertreter*innen von internationalen Organisationen wie UNICEF. Im Dezember werden wir dann für den Tag der Menschen mit Behinderung mobilisieren. Mit anderen Behindertenorganisationen setzen wir uns im Rahmen eines permanenten «Runden Tisches» für die Behindertenrechte ein und wir machen Medienarbeit.

Auch dank der starken Mobilisierung durch Los Angelitos wurde 2020 das «Sondergesetz zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen» verabschiedet. Wo steht das Gesetz in der Umsetzung?

Carole B.: Noch bevor das Inklusionsgesetz tatsächlich angewendet wurde, schlug die Regierung letztes Jahr eine Reform des Gesetzes vor. Sie hätte zur Folge, dass wichtige Artikel und entscheidende Elemente zur Stärkung von Menschen mit Beeinträchtigungen und ihren Organisationen aufgehoben würden. Zudem würde der «nationale Rat für öffentliche Inklusionspolitik» seine Kompetenzen und Unabhängigkeit verlieren. Bisher wurden die von der Regierung verlangten Reformen noch nicht im Parlament verabschiedet. Wir kämpfen weiter dafür, dass dies auch nicht passieren wird.

Was motiviert euch, weiterzumachen?

Dominga E.: Darf ich ehrlich sein? Wir können keine Unterstützung von der Regierung erwarten. Wir müssen selbst für soziale Veränderungen kämpfen. Ich werde mich bis zum Ende dafür einsetzen, dass Menschen mit Behinderungen mehr Autonomie und Selbstbestimmung erhalten. Ich bin fest davon überzeugt: Unsere Arbeit zeigt Wirkung – sowohl für die Familien als auch in der Gesellschaft!