El Salvador hat eines der repressivsten Abtreibungsgesetze weltweit. Ein Schwangerschaftsabbruch ist unter allen Umständen verboten. Doch damit nicht genug: Auch Frauen, die eine Früh- oder Fehlgeburt erlitten haben, werden als Mörderinnen zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. Die junge Filmemacherin Celina Escher hat Die 17 zwei Jahre lang mit der Kamera begleitet.
Therese Vögeli
Therese Vögeli: Celina, wir freuen uns darauf, deinen Film Fly so Far voraussichtlich Ende Jahr mit dir in der Schweiz zu präsentieren. Die Ausschnitte, die wir an der medico-Veranstaltung am 1.Mai-Fest in Zürich bereits sehen durften, haben uns sehr beeindruckt. Wie hast du zu diesem Thema gefunden?
Celina Escher: Seit meinem 11. Lebensjahr lebe ich nicht mehr in El Salvador. Ich wusste erst gar nicht, dass es dort dieses rigide Abtreibungsverbot gibt. Als ich davon erfuhr, ich studierte noch in Kuba, konnte ich es überhaupt nicht verstehen. Ich reiste nach El Salvador und ging direkt zur Bürgervereinigung für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Ich interviewte die Leiterinnen, sprach mit den Anwälten und recherchierte. Zuerst einmal musste ich die Situation und den Kontext verstehen.
2017, nach Abschluss der Filmschule, schaffte ich es zum ersten Mal, in ein Frauengefängnis rein zu kommen. So lernte ich Die 17 kennen. Ich hatte zwei Stunden Zeit und konnte mit etwa sechs oder sieben Frauen sprechen. Ich merkte rasch, dass Teodora die Sprecherin der Gruppe ist. Der Besuch im Gefängnis beeindruckte mich sehr. Man fühlt sich wie in der Höhle des Löwen. Zuerst wird man vollständig durchsucht, dann in einen kleinen Innenhof vorgelassen, wo man die Frauen treffen kann. Da lernte ich sie alle kennen. Sie erzählten mir ihre eindrücklichen Geschichten. Jede einzelne hat eine extrem schlimme Geschichte. Es ist zutiefst ungerecht, dass sie dort drinnen sind. Da beschloss ich, einen Film über die Situation der Frauen zu drehen.
Für die Revision von Teodoras Fall kam ich nach El Salvador zurück. Auf Verlangen der Staatsanwältin wurde die Verhandlung aber verschoben. Stell dir vor, Teodora hatte mehr als zehn Jahre auf diesen Moment gewartet. Und die Anklägerin sagt, sie sei nicht vorbereitet. Trotz der Beweislage entschieden die Richter schliesslich, Teodora müsse wieder zurück ins Gefängnis. Dieser Moment war sehr schlimm für uns alle.
Der Tag, an dem Teodora schliesslich frei gelassen wurde, wird im Film zu sehen sein. Wir filmten Teodora auch auf ihrer Europareise und begleiteten ihren Weg. Ihr Kampf ist zu meinem Kampf geworden. Zwischen uns ist eine tiefe Freundschaft gewachsen.
Theodoras Geschichte ist sehr brutal. Bereits als sie unmittelbar nach der Fehlgeburt abgeführt wurde, wurde sie von der Polizei schwer misshandelt. In den ersten drei Monaten im Gefängnis wurde sie allein in einen fensterlosen Kerker gesteckt. Es ist schwer vorstellbar, wie sie solche Erfahrungen verkraften und zu dieser starken und aktiven Frau werden konnte. Wie geht es ihr heute?
Es geht ihr gut. Sie sagt, sie will vorwärts gehen und das Leben leben. Sie habe genug gelitten. Jetzt gehe es darum, für die anderen zu kämpfen und sie aus dem Gefängnis zu holen. Sie hat so viel Kraft. Es gibt keine Worte dafür, wie sehr ich sie bewundere.
Heute hilft Teodora den Frauen, die aus dem Gefängnis entlassen werden. Die Bürgervereinigung betreibt ein Begegnungszentrum für die Frauen. Teodora hilft ihnen bei der Arbeitssuche, organisiert Arzttermine, begleitet sie zur Psychologin oder zum Anwalt. Einige können nicht in ihr Quartier zurückkehren, weil sie von Mitgliedern der Maras vergewaltigt worden sind und nun von ihnen bedroht werden. Der ganze Kontext des Landes kommt ja noch dazu.
Wie reagieren die Familien der Frauen?
Einige verstossen sie nach der Verurteilung als Mörderin. Andere Familien unterstützen sie aber auch. Alle Familien leben in sehr schwierigen Verhältnissen. Es sind ausschliesslich arme Frauen von den Verurteilungen betroffen. Meistens sind die Frauen die Familienvorsteherinnen, Männer gibt es oft keine. Teodoras Eltern sind Bauern und Teodora war ihre wichtigste wirtschaftliche Stütze. Als sie ins Gefängnis kam, waren die Eltern aufgeschmissen. Zudem liess Teodora einen dreijährigen Sohn zurück. Die Frau geht ins Gefängnis, aber die ganze Familie leidet darunter. Sie müssen schauen, wie sie weiter überleben können. Teodoras Pflichtverteidiger sagte: «Wenn du deinen Fall gewinnen willst, bringe ich dich raus. Aber es kostet. Verkauf dein Haus, die Tiere, das Land. Dann helfe ich dir.» Doch Teodora entschied, ihrer Familie nicht die Überlebensgrundlage weg zu nehmen. Lieber bleibe sie im Gefängnis. «Ok», sagte er, «dann bleibst du hier für 30 Jahre»! Und so geschah es auch. Erst das korrupte Justizsystem macht so etwas möglich.
Das ganze System ist machistisch und patriarchal. Wenn du schwanger wirst, ist dein Leben nicht mehr wichtig, nur das Leben des Fötus zählt. Wie kann es passieren, dass eine Frau alle ihre Rechte verliert, nur weil sie schwanger ist? Gleichzeitig werden die ganze Zeit so viele Frauen vergewaltigt. Aber wenn du nicht einmal in der Schule davon erfährst, nicht darüber redest, es ein grosses Tabu ist, wenn die Kirche sagt, Kondome seien nicht gut, dann ist es schwierig. In ganz vielen Bereichen merkst du, was zu diesem Thema eigentlich fehlt. Nicht nur im Justizwesen, auch im Bildungswesen, in der Gleichberechtigung, der Gewalt auf der Strasse. El Salvador ist ein ausserordentlich gefährliches und gewalttätiges Land. Für die Frauen ist es noch schlimmer. Und für arme Frauen noch viel schlimmer.
Als Mädchen hast du keinen Schutz. Erst letztes Jahr wurde die Verheiratung von Minderjährigen gesetzlich verboten. Wenn ein Mann ein Mädchen vergewaltigt hatte, gab in manchen Fällen die Familie das Mädchen, das Kind, dem Mann zur Heirat. Auf dem Land geschieht dies häufig. Da fragst du dich schon, warum hat die FMLN diese Gesetze nicht schon vor zehn Jahren genauer angeschaut? Der neue Präsident von GANA, der neuen Rechten, sagte im Wahlkampf zwar, er persönlich fände, bei Gefährdung des Lebens der Frau sei eine Abtreibung ok. Er sagte aber nie, er werde sich für die Frauen einsetzen. Ich bin pessimistisch.
Wie siehst du die Rolle der internationalen Gemeinschaft?
Sie ist wichtig. Es gab Unterschriftensammlungen, Kampagnen, Medienberichte. Letztes Jahr konnten sechs Frauen das Gefängnis verlassen, dieses Jahr bereits acht. Dank des ganzen Drucks und mit der Hilfe der Anwält*innen der Bürgervereinigung konnte ihre Freilassung erwirkt werden. In aller Regel geschieht dies aber durch Erlass der verbleibenden Strafjahre, nicht durch eine Revision des Urteils.
Heute erkennt die Bürgervereinigung die Fälle rasch und kann von Beginn an mit einem Anwalt für die Frauen kämpfen. Es ist wichtig, dass die Frauen besser organisiert sind und sie jemand vertritt. Das bedeutet noch nicht, dass sie gewinnen. Aber es bedeutet, dass sie nicht alleine dastehen.
Ich denke, es wird ein langer Kampf. Wir müssen alles unternehmen, damit die Öffentlichkeit davon erfährt. Sei es durch Musik, Theater oder Kampagnen, Aktivitäten, Filmen und Fernsehspots. Dann erst kann man aus der Bevölkerung heraus Druck machen und Forderungen stellen.
Du hast erzählt, dass Teodora im Gefängnis in den ersten fünf Jahren nicht realisierte, dass es da auch andere Frauen mit dem gleichen Schicksal gab.
Ja, fünf Jahre lang erzählte sie nicht, was ihr geschehen war. Aus Angst, dass sie von den anderen verprügelt würde. Sie haben sich wohl gekannt, aber nicht voneinander gewusst. 2012 fand die Bürgervereinigung 17 Fälle, suchte alle Frauen auf und versprach ihnen, mit Anwält*innen für sie zu kämpfen. So entstand der Name Die 17.
Finden Frauen mit dem gleichen Schicksal im Gefängnis heute rascher Verbindung miteinander?
Ja, das ist sehr wichtig. Sie werden gleich an der Türe empfangen, es wird ihnen erklärt, wie es im Gefängnis läuft. Sie müssen weniger Angst haben und sind nicht mehr so allein. Evelyn war zum Beispiel erst 18, als sie zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sie war von einem Mara vergewaltigt und bedroht worden. Sie wurde gleich nach Eintritt von den Frauen empfangen und so wurde es für sie möglich, das Gefängnis zu überleben.
Das ist etwas Licht in diesem extrem düsteren Kapitel!
Ja, es ist wirklich sehr düster. Aber es ist eindrücklich, die tiefe Freundschaft zwischen den Frauen zu sehen und die Solidarität zu erleben. Sie unterstützen sich und helfen sich gegenseitig. Das ist ungemein wichtig, damit sie sich nicht alleine fühlen.
Sobald dein Film Fly so Far fertig ist, werden wir dich für eine Vorführung wieder zu uns einladen.
Gerne. Es ist wichtig, dass wir dranbleiben. Ich erkenne immer deutlicher, wie privilegiert ich eigentlich bin. Die Frage ist, willst du deine Privilegien einfach leben, oder willst du sie brauchen, um etwas Nützliches zu tun?